Religionsroman:Truhe in Frieden

Ist Glaube modernisierbar? In ihrem Roman "Der Hilfsprediger" sät die britische Autorin Hilary Mantel Zweifel daran. Sie brilliert mit genialer Metaphorik und der entscheidenden Frage: Können Schutzengel wandern?

Von Gustav Seibt

Beichtstuhl -  Immer weniger Katholiken gehen beichten

Heikle Fragen werden bei Hilary Mantel im Beichtstuhl gestellt: Ist Schildkrötensuppe beim Fasten erlaubt?

(Foto: dpa)

Unsinn", sagt der katholische Ortsgeistliche in Hilary Mantels tief lustigem Roman "Der Hilfsprediger", "Unsinn, die Leute hier sind keine Christen. Hier gibt's nur Heiden und Katholiken." Das ist die spirituelle Lage in einem von Mooren umschlossenen nordenglischen Dorf Mitte der Fünfzigerjahre. Der Pfarrer hat seinerseits längst den Glauben verloren, er lebt weiter wie eine Ehefrau, die eines Morgens aufgewacht ist und feststellen musste, dass sie ihren Mann nicht mehr liebt - die aber weitermacht und sich sogar besonders viel Mühe gibt beim Zusammenleben. Es sind die pedantisch befolgten Äußerlichkeiten, die das Gebäude des Glaubens aufrechterhalten.

Nach bestem Wissen beantwortet der Pfarrer im Beichtstuhl heikle Fragen: Darf man beim Fasten Fisch essen, der in Fleischfett gebraten wurde? Ist Schildkrötensuppe erlaubt? Auch Schulkinder haben scharfsinnige Zweifel: Wie ist das mit den Schutzengeln? Bekommt jeder Mensch einen neuen oder können sie wandern? Im Schulhof hört man den Ruf: "Mein Schutzengel war mal der von Hitler." Selbst im örtlichen Frauenkonvent brodelt die Unsicherheit. Denn nicht einmal das Beten hilft mehr gegen das Denken. "Das Denken geht unter den Gebeten weiter", sagt eine Nonne. "Unterirdischen Kabeln gleich."

Die Tristesse des religiös verwahrlosten Ortes ist behaglich schaurig, abgründig komisch

Womit nebenbei auch schon eine Haupteigenschaft von Mantels Stil exemplifiziert ist, die geniale Metaphorik. Auf fast jeder Seite erfindet sie Bilder, die dem empfänglichen Leser die lustvollen Elektroschocks solcher Funkenschläge zwischen den Bildwelten bereiten: "Die Kirchentür öffnete sich mit dem gewohnten Ächzen, ein abgestumpfter Schauspieler, der auf die bewährten Effekte zurückfiel." "Aus dem Küchenfenster sah sie, dass die Bäume sich noch wiegten, aber nur noch ein wenig, wie gesittete Tänzer auf einer vollen Tanzfläche." Unnötig zu sagen, dass die Tristesse des abgeschiedenen, religiös verwahrlosten Orts mit solchen Sprachmitteln zu einer untergründig glühenden Grisaille wird, behaglich schaurig, abgründig komisch.

Der Plot: Der im Glaubensverlust erstarrte Ortspfarrer wird von seinem Bischof zu abrupter Modernisierung angehalten. Er soll sich einen Fernseher zulegen, um "relevanter" predigen zu können. Die Heiligenstatuen mit ihren seltsamen Märtyrerattributen (abgeschnittenen Brüsten, Kombizangen) sollen die Kirche verlassen, notdürftig beerdigt man sie im Friedhof. Schließlich kommt ein Abgesandter des Bischofs, der titelgebende Hilfsprediger, namens Fludd. "Fludd" ist der englische Titel des Romans, so hieß ein Alchemist des 16. Jahrhunderts, was die Autorin selbst mitteilt. Das verweist darauf, dass hinter diesem Fludd etwas ganz anderes stecken könnte, als es zunächst erscheint; außerdem kommt damit schon ganz kurz die Epoche ins Bild, der Mantels großartige historische Romane über die Epoche König Heinrichs VIII. gelten, die sie weltberühmt gemacht haben.

Religionsroman: Hilary Mantel: Der Hilfsprediger. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Verlag, Köln 2017. 205 Seiten, 23 Euro. E-Book 18,99 Euro.

Hilary Mantel: Der Hilfsprediger. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Verlag, Köln 2017. 205 Seiten, 23 Euro. E-Book 18,99 Euro.

(Foto: Verlag)

Fludd also soll beim Prozess der Modernisierung helfen, so scheint es zunächst. Aber vor allem hat er die Gabe zuzuhören und den Leuten ihre Geheimnisse abzulauschen. Dabei kommt die Dialektik von Glaubensverlust und Formenstrenge unbarmherzig ans Licht. Mantels Roman kann auch als vorweggenommener Einspruch gegen jüngste Klagen über die Häresie der Formlosigkeit gelesen werden. Man würde hier nun gern weiter nacherzählen, sollte sich aber fairerweise zügeln, bei den allerbesten Büchern darf sich keine Rezension an die Stelle der Lektüre drängeln. Nur so viel: Kühl erläutert Fludd, dass die Welt schon hochstaplerische Chirurgen gesehen hat, die nie studierten, denen aber doch tadellose Operationen gelangen.

Kloster, Kutte, Schleier - ein Roman wie dieser braucht ein wenig Grusel und Kolportage

Im Frauenkonvent regieren Überdruss und Angst, die Schwestern quälen einander mit miserablem Essen. Dieses gewaltige britische Thema behandelt Mantel mit entwaffnender Expertise. Auch für den Identitäts- und Weltverlust des Nonnendaseins hat sie ein düster-starkes Bild: die Truhe, in der die weltlichen Kleider aufbewahrt werden, welche die Frauen trugen, als sie ins Kloster kamen und Kutte und Schleier anzogen. Das Erste, was der dämonische Fludd bei seinem Antrittsbesuch im Kloster verlangt, ist die Öffnung dieser Truhe, in der die früheren Existenzen der Schwestern eingesargt sind. Natürlich braucht eine solche klassisch-schaurig ausgestaltetes Szenerie ein wenig Grusel und Kolportage. Wunder, aber nicht unbedingt christliche, fallen vor: Eine Warze wandert von einer Person zur nächsten. Wenn Fludd trinkt, wird das Glas nicht leer.

Hilary Mantels kleines Meisterwerk erschien 1989. Es war schon damals ein historischer Roman über eine verschwundene Epoche, die katholische Kirche vor dem zweiten Vatikanischen Konzil. Doch auch die Vergeblichkeiten des "aggiornamento", der Anpassung zu Lebensnähe und "Relevanz", kommen unnachsichtig zur Anschauung. Die armen verbuddelten Statuen erleben ihre Ausgrabung und Wiederherstellung im gleichen Handlungsstrang, in dem Fludd zum wahren Befreier wird. Der Leser sollte das Buch andächtig genießen, aber die Drähte des Denkens dabei heiß laufen lassen.

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