Reiseliteratur:Ein merkwürdiges Volk

Von Tacitus bis Cees Nooteboom: Rainer Wielands "Buch der Deutschlandreisen" ist eine wunderbare Gelegenheit, Deutschland von der Antike bis in die Gegenwart mit fremden Augen zu sehen.

Von Gustav Seibt

Diese Deutschen! Im Theater haben sie nummerierte Sitzplätze, aber ihre Straßen sind furchtbar. Hausmusik ist allgemein verbreitet, aber eines ihrer Lieblingsgetränke, eine Wein-Orangenschalen-Mischung namens "Bischof" erregt Übelkeit. Kaum freut man sich, dass selbst ihre Kurkapellen nur klassische Musik spielen, intoniert eine schon "Cavalleria Rusticana" und ein Liedchen namens "Daisy Bell".

Die Tannenwälder riechen gut, aber Köln wird seinem um 1800 erworbenen Ruf, es stinke bestialisch (der englische Dichter Coleridge zählte "siebenundzwanzig deutlich unterschiedene Gerüche und wahren Gestank") noch hundert Jahre später gerecht: "Trotzdem machte es mir Freude, durch die düsteren Gassen zu streifen und festzustellen, wie viele authentische und originale Produzenten des berühmten Eau de Cologne es wohl geben mochte. Als ein Dutzend voll war, gab ich den Versuch auf." Das schrieb ein blasierter britischer Fahrrad-Tourist 1896.

Reisen nach Deutschland waren vor dem 20. Jahrhundert Fahrten in ein Dunkelland

Überhaupt die Gerüche, die Getränke. Der grauslige "Bischof" wurde am Ende des 18. Jahrhunderts wohl eher im norddeutschen Raum angeboten, während sonst natürlich das Bier berühmt war, das diese stämmigen Menschen in ungeheuren Mengen verbrauchten, zu ihren Wurstplatten. Und stinken tat's vor allem in den engen, vollgepackten Kutschen, die sich rumpelnd und schlitternd über mal steinige, mal schlammige Wege von Poststation zu Poststation quälten. Wer den Muff nicht aushielt, war gut beraten, zu dem wettergegerbten Typen oben auf dem Kutschbock zu steigen, den man "Schwager" nannte, und ihm bei Gefahr des Erfrierens die Fackel in den nächtlichen Schneesturm zu halten. Wer mit dem Schiff den Rhein entlangfuhr, dem konnte es passieren, dass er zu Ruderdiensten herangezogen wurde, selbst wenn er bezahlt hatte - immerhin lenkte das von den am Ufer aufgereihten Galgen ab.

Rainer Wielands "Buch der Deutschlandreisen" ist ein großer Spaß - wer je über verspätete ICEs klagte, sollte es zum Trost dabeihaben, um das Wort "Strapaze" mit Leben zu füllen. Bis in jüngste Vergangenheiten war das Reisen anstrengender und gefährlicher, als heutige Bahn-Kunden, die sich vor allem über "fehlende Information" aufregen, es sich auch nur im Traum vorstellen können. Reisen nach Deutschland waren vor dem zwanzigsten Jahrhundert Fahrten in ein Dunkelland, in dem nach Sonnenuntergang meistens nur noch ein paar Dorffunzeln leuchteten. Im 16. Jahrhundert wusste man von gewissen Waldstücken ganz sachlich, dass dort "die Mörder" ihren Unterschlupf hatten - was vagabundierende Kinderbanden, die ihr Leben mit Singen und Betteln bestritten, nicht unbedingt abschreckte.

Jede gute Anthologie ist mehr als eine Zusammenstellung von Texten; sie wird ein Gebilde eigenen Rechts wie die am Rand von Ruinen entstandenen Häuser, die ganz aus antiken Bruchstücken bestehen. Der Anthologist ist ein Spolienkünstler, mit dem Vorteil, dass er nichts Altes kaputtmachen muss, um seinen Fragmentenpalazzo zu bauen. Rainer Wieland hat schon ein paar Mal bewiesen, dass er ein Meisterarrangeur ist, der bei klassischen Vorbildern wie Rudolf Borchardt oder Hans Magnus Enzensberger gelernt hat.

Sein "Buch der Deutschlandreisen" kann als Pendant zu Borchardts "Der Deutsche in der Landschaft" durchgehen, weil es dessen Spielanordnung konsequent umdreht. Borchardt sammelte Texte von deutschen Autoren, die in die Welt gingen und beschrieben, was sie sahen. Wielands Auswahl legt sich auf Texte von Nichtdeutschen fest, die in unser Land kamen, diese streng chronologisch reihend, von Tacitus bis Cees Nooteboom. Drei Viertel stammen aus der Zeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, anders kann es kaum sein.

Reiseliteratur: Heidelberg, als Phantasmagorie mit Regenbogen, aquarelliert von Joseph Mallord William Turner auf seiner Deutschlandreise 1816.

Heidelberg, als Phantasmagorie mit Regenbogen, aquarelliert von Joseph Mallord William Turner auf seiner Deutschlandreise 1816.

(Foto: mauritius images)

Natürlich gibt es darunter etliche sehr bekannte Stücke, etwa von Madame de Stael, Thomas Wolfe oder Christopher Isherwood. Aber wer kennt die äußerst lustigen Schilderungen der britischen Botschaftergattin Lady Wortley Montague vom Wiener Hof aus dem Jahr 1716? Der Aufbau der Damenfrisuren kam ihr so bizarr vor, als müsste sie diese für einen modernen Kostümfilm nachkonstruieren. Seltsam in ihren Augen auch, dass in Wiens engen Gassen Fürsten neben Schulmeistern wohnen können, während hinter den adeligen Wohnungstüren ein fantastischer Möbel- und Geschirrprunk herrscht.

Solche Beobachtungen liegen nationaler Stereotypisierung noch ganz fern. Überhaupt zeigen frühere Reisende eine unbefangen notierende Neugier, die auch viel über die fremden Blicke verrät. Wem die deutschen Schlammstraßen merkwürdig vorkommen, der ist zu Hause offenbar Besseres gewohnt - und ja, solche Autoren kommen oft aus Gebieten des ehemaligen Römischen Reiches mit ihrer traditionell überlegenen Straßenbaukultur. Erst seit dem frühen 19. Jahrhundert werden die Wahrnehmungen unter nationalen Kriterien kodiert, und beim Lesen lernt man, dass sogenannte Volkscharaktere weniger eine Tatsache als ein Beobachtungsschema sind.

Virginia Woolf ist in Bayreuth irritiert von Sängerinnen mit künstlichen Flechtzöpfen

So wird das "Buch der Deutschlandreisen" auch zu einem Geschichtsbuch, das den Vorteil der anthologischen Form, nämlich Reduktion ganzer Bibliotheken auf engen Raum, zu rasanten historischen Durchblicken nutzt. Der Raum wird hier zur Zeit, die mit erfreulicher Anschaulichkeit am Leser vorbeigaloppiert, selbst wenn die Kutschen dabei umstürzen und Gebirge von Koffern in den Schlamm werfen. Die beiden wichtigsten Einschnitte in der äußeren Gestalt Deutschlands, der Dreißigjährige Krieg und die Ruinenwelt am Ende des Zweiten Weltkriegs kommen mit gebührender Wucht zur Geltung. Dazu gehört eine reizvolle Bebilderung und ein sehr schönes Druckbild.

Erschütternd, wie "spätmittelalterlich" Deutschland noch vor dem Zweiten Weltkrieg wirken konnte. So nennt es Patrick Leigh Fermor, der sich 1933/34 zu Fuß durch Deutschland bewegte, immer in der Gefahr, sich zu verlaufen, entzückt von Trachten und alten Kirchen, vom bayerischen Preußenspott und einer unaufdringlichen Gastfreundlichkeit, die noch an die alte Armenfürsorge anknüpfte. Was Ingmar Bergman in derselben Zeit als Austauschschüler bei einem glühend nationalsozialistischen Pfarrer in Thüringen erlebte, war der Schritt in eine neue Zeit, die in Dörfern und Kleinstädten verstreute Landesbewohner zu einer Volksgemeinschaft höchst künstlich verschweißte.

Oft muss man lachen, etwa, wenn Frederick Forsyth als Ostberlin-Korrespondent die Stasi austrickst oder wenn Virginia Woolf sich in Bayreuth langweilt, irritiert von Sängerinnen mit Nachthemden und künstlichen Flechtzöpfen. Großartig gruselig Tania Blixens Einblicke in die Ufa-Werkstätten von 1940, wo gerade "Jud Süß" gedreht wird, neben Bauernkomödien und historischen Schinken: Sie spricht von einer Dante-Welt, in der ein immer neu gespielter Filmmoment die ewige Gegenwart der Hölle bezeichnet.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Internetseite zur Verfügung.

Jede gute Anthologie muss auch die Lust auf die Bücher wecken, aus denen sie Ausschnitte bringt. Ergreifend liebenswürdig sind die Erinnerungen des schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlers W. E. B. Du Bois an seine Studienzeit in Deutschland von 1892 bis 1894. Ausgerechnet hier wird er - zum ersten Mal in seinem Leben, so sagt er es - nicht als "Neger", sondern als Mensch behandelt, und so kann auch er die unfassbar freundlichen Deutschen nicht als "Weiße", sondern als Menschen wahrnehmen: "Tief bewegte mich der Gedanke der Einheit der Menscheit." Du Bois hörte bei Treitschke (nuschelnd, unverständlich, anregend), bei Gustav Schmoller und anderen Berliner Größen.

Die merkwürdigen Riten der Studenten - Trampeln für Beifall, Scharren für Missbilligung - notiert er ebenso wie ihre seltsam glühende Vaterlandsliebe: Fast täglich reitet der junge Kaiser mit klingendem Spiel an der Universität vorbei, man schmettert laut die "Wacht am Rhein". Patriotismus hat etwas mit Pracht und Prunk zu tun, wie es der Amerikaner nicht kennt.

Auf seine heitere, tiefsinnige Art ist Wielands wohlkomponierte Sammlung eine schöne Gelegenheit, sich mit Deutschland neu zu befreunden, mit einem teils wiedererkennenden, teils verwunderten Lächeln, durchaus auch mit Schrecken, gelegentlich gerührt, immer mit der Freude an Beobachtungen und Urteilen, die schon ein paar Seiten später relativiert werden.

Bleibt bei all dem kaum resümierbaren Reichtum nur eine Frage: Warum in aller Welt hat Wieland nicht ein paar Seiten aus Montaignes Reise nach Italien aufgenommen, die den besten Beobachter seiner Zeit ja auch über Süddeutschland führte?

Rainer Wieland (Hrsg.): Das Buch der Deutschlandreisen. Von den alten Römern zu den Weltenbummlern unserer Zeit. Propyläen Verlag, Berlin 2017. 512 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 48 Euro.

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