Reich-Ranickis TV-Schelte:Der Unbeugsame

Die Wirkung von Marcel Reich-Ranickis Wut-Rede zeigt: Es gibt eine große Sehnsucht nach alten Männern, die kein Blatt vor den Mund nehmen.

Christopher Schmidt

Es muss nicht immer gleich der Papst sein, um dem Zeitgeist die Leviten zu lesen, manchmal genügt auch ein Literatur-Papst. Aber dass Marcel Reich-Ranicki genauso wie Benedikt XVI. dafür geliebt wird, wenn er unbequeme Wahrheiten ausspricht, bestätigt, dass es eine große Sehnsucht gibt nach unbeugsamen alten Männern, die es nicht nötig haben, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Reich-Ranickis TV-Schelte: Einer, der weiß, wie es geht und einer, der nur so tut: Die Fernsehschelte des Literaturkritikers Reich-Ranicki wirkt, weil hinter seinen Worten Substanz steckt.

Einer, der weiß, wie es geht und einer, der nur so tut: Die Fernsehschelte des Literaturkritikers Reich-Ranicki wirkt, weil hinter seinen Worten Substanz steckt.

(Foto: Foto: dpa)

Obwohl Reich-Ranicki als Gastgeber des "Literarischen Quartetts" selbst zu einer Fernsehfigur geworden ist, verdankt er seine Prestige eben nicht diesem Medium, sondern seinem jahrzehntelangen Wirken als schreibender Literaturkritiker.

Nur weil er kein Geschöpf des Fernsehens ist, umhüllt ihn der Bildschirm so schützend wie das Oberhaupt der katholischen Kirche dessen gläsernes Papamobil. Seine Fernsehschelte wurde ernst genommen als Donnerworte eines, der nicht Teil des inzestuösen Systems ist.

Zwar hat Reich-Ranicki in seiner "Wut-Rede" über das schlechte Niveau des deutschen Fernsehens nur ausgesprochen, was ohnehin jeder weiß, und doch zeigt sein Auftritt, dass es für die Wirkung von Kritik nicht unerheblich ist, wer sie äußert und in welchem Zusammenhang.

Beispielhaft für den Ansehensverlust des Fernsehens ist der veränderte Stellenwert, den es etwa in den Karrierestrategien von Schauspielern einnimmt. Früher fingen diese auf der Theaterbühne an, bevor sie den Sprung ins Fernsehen schafften. Heute ist das Theater oftmals ein Auffangbecken für Rückkehrer wie Harald Schmidt, der trotz anhaltender TV-Präsenz mittlerweile festes Ensemblemitglied am Stuttgarter Staatsschauspiel ist und dort vom 25. Oktober an mit seinem "Hamlet"-Musical auf der Bühne stehen wird.

Graue Eminenzen des Fernsehens

Häufig erfolgt die Rückwendung zum Theater zu einem Zeitpunkt, da Schauspieler in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten sind. Immer dann, wenn die Gefahr droht, dass das Publikum ihrer Omnipräsenz überdrüssig ist, nutzen sie gezielt das Theater, um ihr künstlerisches Profil wieder zu schärfen.

So laut und grobschlächtig das Fernsehen auch sein mag - was das delikate Spannungsverhältnis zwischen Glaubwürdigkeit und Resonanz angeht, ist es hochsensibel. Weil es immer noch das Mainstream-Medium schlechthin darstellt, dient es zugleich als Indikator für Entwicklungen, die sich auch in anderen Bereichen der Gesellschaft abzeichnen. Und eine dieser Entwicklungen besteht in dem Wunsch nach festen Orientierungsgrößen, an denen man sich ausrichten kann. Schließlich müsste ein Mann, der unserer verflüssigten Kultur den Staudamm eines Lese-Kanons entgegengesetzt hat, doch auch auf anderen Gebieten wissen, wo es langgeht.

Marcel Reich-Ranicki verkörpert den untergegangenen Typus einer Zeit, in der Heinrich Böll und Günter Grass das moralische Gewissen der Nation waren und man überhaupt von Kulturschaffenden moralische Vorbildfunktion erwartete. Auch das Fernsehen war damals fest in der Hand grauer Eminenzen - Kulenkampff und Carrell, Thoelke und Fuchsberger, Frank Elstner und Hänschen Rosenthal, jeder von ihnen war eine Instanz der Fernsehunterhaltung.

Ihre grandseigneurale Ära versilberte das deutsche Fernsehen, und seine Moderatoren regierten so unangefochten wie Lehnsherren, die mit größter Noblesse ihre Provinzen verwalteten und nie auf die Idee gekommen wären, ihre Nachbarn zu überfallen.

Denn die Macht zwischen ihnen war streng aufgeteilt: Erik Ode gehörte der Krimi, Ernst Huberty der Sport, Peter Frankenfeld führte die Nation durch den Samstagabend, und Werner Höfer begrüßte sie am Sonntagmorgen zum Internationalen Frühschoppen. Sie machten sich noch fein für ihr Publikum, und nur dem Kollegen vom Sport war es erlaubt, zum Sakko einen Rollkragenpullover zu tragen: Man verstand sich als Gastgeber, immer bemüht, den Zuschauer nach besten Kräften zu bewirten.

Lesen Sie auf Seite 2 von Reinhold Beckmann und weiteren Betroffenheits-Sanitätern.

Der Unbeugsame

Die heile Welt dieses einträchtigen Männerbundes zerschellte an der Einführung des Privatfernsehens. Plötzlich zeigte der Fernsehunterhalter sein hässliches Gesicht. Kaum war RTL auf Sendung gegangen mit "Tutti Frutti" und "Der heiße Stuhl", verwandelte sich das Studio von einem Schutzraum in eine Arena. Aus Kandidaten wurden Opfer, die an den Pranger gestellt und der Schaulust preisgegeben wurden, und der Moderator rettete sich selbst hinter die schützende Bande. Er verschmolz mit dem Publikum, wurde zu einem aus der Menge, die sich an einen Unfallort stellt und sich an Fehlleistungen und Scheitern ergötzt.

Das Fernsehen wurde zum Austragungsort einer Kulturrevolution. In deren Verlauf fielen die Grenzen zwischen Unterhaltung und Information, Fakten und Fiktionen, Leben und Kunst. Diese Entgrenzung hat zwei komplementäre Typen von Moderatoren hervorgebracht, die zwischen den Fronten durch das schlammige Schlachtfeld waten: den Betroffenheits-Sanitäter, der wie Kerner und Beckmann mit der immergleichen Frage "Wie haben Sie sich dabei gefühlt?" die Verwundeten verbindet, und den Klinik-Clown Oliver Pocher, der lustig an den Mullbinden der Denkverbote und Tabus zupft.

Beide ergänzen sich perfekt in ihrer kathartischen Wirkung. Während die Softtalker für universelle Rührung sorgen, kümmert sich der Saaleinpeitscher um die Triebabfuhr.

Der Unterschied dieser Generation von Fernseh-Entertainern zu ihren altväterlichen Vorgängern besteht darin, dass sie bereits mit dem Fernsehen großgeworden ist, sie wurde durch "Bonanza" und "Dalli Dalli" sozialisiert, nicht von Krieg und Wiederaufbau. Wenn jemand wie die Late-Night-Moderatorin Ina Müller sich für den Deutschen Fernsehpreis mit den Worten bedankt: "Dabei mach ich in meiner Sendung nichts anderes, was ich privat nicht auch mache: sabbeln, saufen, singen", muss man sich nicht wundern, dass es schlecht steht um die Selbstheilungskräfte des Mediums.

Abkehr vom Hedonismus der Popkultur

Dabei ist das Fernsehen nur ein Ort, vielleicht der exemplarische, der aufgrund seiner zunehmenden Selbstbezüglichkeit Vertrauen verspielt hat. Ob in Politik, Wirtschaft oder Kultur - zunehmend regt sich Unbehagen gegen das alerte Profi-Prinzip und jene, die allzu geschickt die Spielregeln ihres Metiers beherrschen.

Längst werden pensionierte Manager reaktiviert, weil man auf ihr Erfahrungskapital zu früh verzichtet hat. Auf dem Theater haben Regisseure wie Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff erstaunliche Alterskarrieren erlebt. Der Zuspruch, den sie finden, bezeichnet auch eine Abkehr vom als frivol empfundenen Hedonismus der Popkultur.

Begonnen hat alles mit dem überraschenden Erfolg der alten kubanischen Musiker vom "Buena Vista Social Club". Es waren nicht nur ihre Melodien, die das Publikum für sie einnahmen, sondern auch ihre Biographien. In einer immer stärker segmentierten Gesellschaft wächst das Bedürfnis nach integrierenden Kräften, Autoritäten, die nicht mit ihrer Karriere identisch sind und Substantielleres zu bieten haben als nur eine perfekte Performance.

Harald Schmidt, selbst im Fernsehen ergraut, hat den Absprung geschafft. "Mehr Inhalt, wen'ger Kunst", heißt es im "Hamlet", und das ist vielleicht das Motto der Stunde.

Am Freitag werden Marcel Reich-Ranicki und Thomas Gottschalk im ZDF über die Qualität des deutschen Fernsehens diskutieren. Über die Reichweite des Gipfeltreffens macht sich Gottschalk indes keine Illusionen: Er glaube nicht, dass sich die Fans von "DSDS" den Termin in den Blackberry tippen, sagt er weise vorab.

Lesen Sie die Kritik der TV-Gesprächsrunde mit Reich-Ranicki und Gottschalk am Samstagmorgen (18.10.) bei sueddeutsche.de.

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