Nach der Berlinale 2012: Stephen Daldry im Interview:"Ein Film über 9/11, das ist harter Stoff"

Der 11. September 2001 hat die USA in Angst und Schrecken versetzt. Jonathan Safran Foer hat mit "Extrem laut und unglaublich nah" den Roman zum Trauma geschrieben, der Regisseur Stephen Daldry die Vorlage verfilmt. Mit der SZ spricht er über Amerika nach dem Anschlag, traumatisierte Kinder und wieso er die Hauptrollen unbedingt mit Sandra Bullock und Tom Hanks besetzen wollte.

Jörg Häntzschel

Sein Film ist ein emotionaler Stresstest, er selbst wirkt schüchtern und zuvorkommend. Stephen Daldry erkundigt sich nach dem Befinden des Interviewers, sagt "wir", wo alle anderen "ich" sagen und bringt oft die Buchvorlage von Jonathan Safran Foer ins Spiel. Nur einmal leistet er sich einen ironischen Wutanfall. Darauf braucht er eine Zigarette. Auf dem Fenstersims, den Rauch durchs Fenster blasend, findet er endlich Platz für seinen langen Körper. Von der Park Avenue steigt sanftes Gehupe herauf, nicht einmal ist eine Sirene zu hören.

62. Berlinale: Pressekonferenz 'Extremely Loud And Incredibly Close'

Stephen Daldry bei der Berlinale.

(Foto: dapd)

SZ: 9/11 hat sich als schwieriger Stoff erwiesen. Die wenigen Filme und Bücher, die sich mit dem Thema beschäftigten, blieben matt, verglichen mit den Fernsehbildern. Truth is stranger than fiction! Wie sind Sie mit diesem Problem umgegangen?

Daldry: Das Buch von Jonathan Safran Foer hat seine eigene Wahrheit. Es ist ein Märchen. Aber genau das macht es zu einer wahren Geschichte. Der Umgang des Jungen Oskar mit dem Tod seines Vaters wie auch das, was an diesem Tag passierte: Beides zeigen wir nur aus der Perspektive des Kindes.

SZ: Entsprechend wenig erleben wir von der Katastrophe selbst. Ein paar Feuerwehrwagen, ein Blick auf die Türme, und natürlich dieser schemenhafte, fallende Mann - der Rest sickert gebrochen und gefiltert in den Film.

Daldry: Wir haben uns das lange überlegt. Sollen wir etwa Tom Hanks zeigen, wie er aus den brennenden Türmen anruft? Ich wollte das nicht. Für mich ging es darum, die Erfahrung einer Person glaubwürdig darzustellen.

SZ: Dennoch ist das Ergebnis mehr als das. Genau diese Kombination von Trauer, Verständnislosigkeit und dieser seltsamen mitmenschlichen Wärme bestimmte einen Moment lang die Stimmung in der Stadt. So ist auch völlig plausibel, dass Oskar überall mit offenen Armen empfangen wird.

Daldry: Danke! Aber es handelt sich nur um eine von vielen Geschichten, noch dazu eine erfundene. 3000 Kinder haben am 11. September Vater oder Mutter verloren. Ihre Geschichten sind real. Man muss immer wieder klarstellen, dass es sich hier nicht um einen Dokumentarfilm handelt.

SZ: Der Anschlag vom 11. September überforderte die Vorstellungskraft auch der meisten Erwachsenen. Man fühlte sich selbst ein bisschen wie dieser Neunjährige im Film.

Daldry: Das ist das Geniale an Jonathans Idee, ein Kind zum Medium zu machen. Aber im Gegensatz zu vielen Erwachsenen weiß Oskar sich zu helfen. Er denkt sich diese Aufklärungsmission aus, die er erfüllen muss. Sie ist natürlich völlig absurd, aber mit ihr rettet er sich aus seiner Trauer.

SZ: Wobei am Ende ja eine paradoxe Einsicht steht: Oskar glaubt, er müsse nur noch mehr lernen, noch mehr Steine umdrehen, dann werde sich alles erschließen. In Wahrheit lernt er, dass manche Dinge sich gar nicht verstehen lassen. Sie haben diese Kinderperspektive ja schon öfter zum Thema gemacht: In "Billy Elliot" und "Der Vorleser".

Daldry: Das ist Zufall. Mein Thema ist eher der Verlust. Verlust von Gemeinschaft, Verlust von Familie.

SZ: Auch Sie selbst haben Ihren Vater früh verloren ...

Daldry: (der die Frage schon hundert Mal gehört hat) . . . und das ist sicher einer der Gründe dafür, dass es bei mir dauernd um tote Väter und Mütter geht.

SZ: Wie viel von Ihrer eigenen Erfahrung steckt in diesem Film?

"Zehntausende Anrufe aus dem brennenden World Trade Center"

Daldry: Kinder, die ihre Eltern verlieren, fühlen sich wie Parias: ausgeschlossen, isoliert. Es ist schwer, darüber zu sprechen. So war es bei mir, und vieles davon steckt auch in Oskar.

62. Berlinale: 'Extremely Loud And Incredibly Close'

Stephen Daldry inszeniert wuchtig und drastisch, Traumatisierung ist ihm vor allem Dramatisierung, eine Frage der Lautstärke und der Beschleunigung.

(Foto: dapd)

SZ: Was hat es auf sich mit dem Zusammenbruch der Kommunikation in diesem Film? Oskar, die Mutter, die Großmutter und der mysteriöse Alte: Niemand redet mit niemandem, lauter Schlüssel ohne Schloss.

Daldry: Zum einen Teil hat diese Kommunikationslähmung, wie wir erfahren, in dieser Familie ja eine lange Geschichte. Zum anderen ist es eben die Unfähigkeit, über den Verlust des Vaters hinwegzukommen. Der Mutter gelingt es nicht; Oskar gelingt es nicht. Bis er auf seine Reise geht und jeden vollquatscht, den er trifft. Dann redet er zu viel!

SZ: Oskar ist alles andere als ein konventionelles Film-Kind. Er nervt mit seinem nutzlosen Wissen, er hasst seine Mutter. Und Thomas Horn ist das Gegenmodell zum Hollywood-Kind vom Typ Macaulay Culkin.

Daldry: Jonathan hat eine Figur erfunden, die irgendwo auf dem autistischen Spektrum lag. Ein Kind, das ein ganzes Bündel Schwierigkeiten und Phobien hat und gleichzeitig irrsinnig intelligent ist. Genau deshalb hat mich diese Geschichte interessiert. Sie handelt nun mal nicht von einem Disney-Kind. Dass viele lieber ein Disney-Kind gesehen hätten, steht auf einem anderen Blatt.

SZ: Andererseits haben Sie die Rollen der Eltern mit Tom Hanks und Sandra Bullock besetzt - Disney-Eltern.

Daldry: Ich sage Ihnen, warum: Es handelt sich um einen Film über 9/11. Das ist harter Stoff. Da will der Zuschauer in sicheren Händen sein. Dafür braucht man Mr. und Mrs. America. Aus der Sicht eines Jungen ist Tom Hanks der ideale Daddy. Sandra Bullock ist eine tolle, von allen geliebte Schauspielerin. Die Zuschauer brauchen solche Leute in einem Film über 9/11. Sie sollen wissen: Das ist kein Film, der mir schlaflose Nächte bereiten wird.

SZ: Und ohne die beiden?

Daldry: Hätten viele gesagt: Ach, irgendein Engländer hat einen 9/11-Film gedreht. Den schaue ich mir bestimmt nicht an.

SZ: Sie leben die meiste Zeit in New York, sind mit einer New Yorkerin verheiratet und kannten Menschen in den Twin Towers. 9/11 ist Ihnen vertraut. Wie haben Sie sich darüber hinaus auf den Film vorbereitet?

Daldry: Wir haben mit einigen Leuten gesprochen, deren Mütter oder Väter damals starben. Doch heute sind sie erwachsen, entsprechend hat sich ihr Blick verändert. Psychologen, die damals solche Kindern betreut haben, waren da ergiebiger. Was uns aber am meisten überrascht hat, waren andere Dinge. Welche Bedeutung zum Beispiel die Anrufbeantworter für die Hinterbliebenen hatten. Es gab ja Zehntausende Telefonanrufe aus dem brennenden World Trade Center. Viele wurden beantwortet, viele auch nicht. Zu erfahren, was die Leute mit diesen Messages machten, wann sie sie anhörten, welche Bedeutung sie bekamen, wie sie Teil ihres Lebens wurden, das war unglaublich wichtig. Es geht ja um ein Kind mit einem obsessiven Verhältnis zum Anrufbeantworter.

SZ: Erklären Sie noch mal, warum Oskar nicht den Hörer abgenommen hat, als sein Vater an jenem Morgen anrief?

Daldry: Sie sind so deutsch! (Brüllt) Wie können Sie das nicht verstehen? Weil er Angst hatte natürlich! Das ist seine Katastrophe. Er hat sich nicht getraut. Wir haben den Film einer Gruppe von Psychologen gezeigt, die sich um solche Kinder kümmerten. Ihre erste Reaktion war: Zum Glück hat dieses Kind das Telefon nicht abgenommen! Stellen Sie sich das mal vor: Sie sprechen mit Ihrem Vater, während er stirbt!

SZ: Sie nannten die Geschichte vorhin ein Märchen. Es ist ja alles da, was dazugehört: der einsame Held auf seiner Suche, die Prüfungen, die Fremden, die ihm zu Hilfe kommen. Nur sucht er nicht den Schlüssel für das Schloss, sondern das Schloss, in das der Schlüssel passt.

Daldry: Toller Essay, den Sie da schreiben!

SZ: Und was er schließlich findet, ist nicht sein Vater ...

Daldry: . . . sondern, dass er ohne ihn leben kann. Seinen Verlust wird er nicht los. Aber er kann lernen, mit ihm zurechtzukommen. Mehr können wir ja alle nicht tun.

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