Regisseur Clint Eastwood:Ein Polizeistaat namens L.A.

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Aktuelle Wut, gespeist aus der Geschichte: Clint Eastwood spielt in "Der fremde Sohn" mit den Genres. Beängstigend überraschend.

Tobias Kniebe

Immer wenn man meint, diesem Film auf die Schliche zu kommen, überrascht Clint Eastwood, der alte Fuchs, seine Zuschauer von neuem. Ein Historienfilm, denkt man zunächst: weil die Farben angegraut und entsättigt sind, weil Angelina Jolie glockenförmige Stummfilmhüte trägt und durch Los Angeles eine Straßenbahn fährt. "Eine wahre Geschichte", heißt es dann auch lapidar auf einer Schrifttafel - nicht "basierend auf" oder "inspiriert von".

(Foto: Foto: dpa)

Mit diesem Anspruch wird "Changeling/Der fremde Sohn" von der unglaublichen Prüfung einer gewissen Christine Collins erzählen, deren Sohn eines Tages im Jahr 1928 spurlos verschwunden war, woraufhin ihr eine korrupte Polizei einen falschen Straßenjungen unterschob und dann versuchte, ihre Proteste durch Einweisung in die Psychiatrie zu ersticken.

Aber nein, keineswegs nur historisch - ein moderner Mütterfilm, meint man wenig später zu spüren: Wie sensibel und zugleich gnadenlos hier dem ewigen Schuldbewusstsein der berufstätigen oder auch nur lebenshungrigen Frau nachgespürt wird - da liegt plötzlich sogar der Fall Maddie ganz nah. Christine Collins, eine Tour de Force für Angelina Jolie, hat ihr neunjähriges Kind zu Hause alleingelassen, sie stürzt also wie gehetzt aus der Arbeit, wird aber vom Vorgesetzten aufgehalten, der sie loben und befördern will - ja danke, sagt sie, aber nicht jetzt. So gebremst verpasst sie die Trambahn, kommt aufgelöst in ihrer Straße an - und wie leer und dunkel und tot das Haus in diesem Moment schon daliegt, das bestätigt die schlimmsten Ängste und schnürt ihr die Kehle zu.

Doch Moment: Vielleicht geht es doch eher um einen Monsterfilm? Ein Film wie "Das Omen", mit einem Monster in Kindergestalt, einem Wechselbalg wie aus Märchen und Sagen. Das untergeschobene Kuckuckskind sperrt gierig den Schnabel auf und scheint immun zu sein gegen den Hass seiner Wirtsmutter. "Goodnight, Mommy", sagt es, genauso scheinheilig wie gruselig. Aber auch wieder falsch - denn bald verwandelt sich alles in einen sehr direkten Frauengefängnisfilm à la "Frauen bis aufs Blut gequält" - zumindest für einige Zeit: Wenn nämlich Angelina Jolie in die geschlossenen Abteilung der Psychiatrie eingeliefert wird, erlebt sie das volle Programm der denkbaren Scheußlichkeiten, vom Elektroschock bis zur Durchsuchung aller Körperöffnungen, ausgeführt von einer bösen blonden Aufseherin.

Und dann, kaum ist die Hauptfigur vorläufig weggesperrt, beginnt schon wieder etwas Neues, ein richtiger Serienkillerfilm: Es gibt Hinweise auf verschwundene Jungs, die zu einer abgelegenen Farm in der Wüste führen, auch der echte Sohn der verzweifelten Mutter könnte dort gewesen sein. Wenn der unerschrockene Detektiv an diesem Ort ankommt, lauert die Kamera ihm schon auf, durch einen Spalt im Holzverschlag lugt sie hindurch. Gleißendes Sonnenlicht, undurchdringliche Schatten. Aus den Schatten aber ragen Äxte und Hackebeile hervor, in solcher Zahl, dass man denkt: Ist ja gut jetzt. . . Eine Tür knarzt eindrucksvoll. Ein aufgescheuchtes Huhn flattert auf.

Die Mutter, ewig gehetzt

In Windeseile also wechselt der Regisseur Eastwood seine Stilmittel und Erzähltechniken, aber er lässt das alles völlig natürlich erscheinen, und er macht auch kein Aufhebens darum. Und so war es ja wirklich, könnte man sagen: Der Fall des falschen Collins-Jungen mündete ganz unmittelbar in das größte Verbrechen, das bis dahin die Stadt Los Angeles erschüttert hatte - in den Fall des Massenmörders Gordon Northcott.

Wie soll das also weitergehen: Ein Gerichtsdrama, bei dem mit donnernder Stimme die Gerechtigkeit zurückschlägt? Dazu das Kurzporträt eines getriebenen Kindsmörders, gespielt von Jason Butler Harner, bei dem Peter Lorre sehr heftig grüßen lässt? Und zuletzt noch ein Statement zur Todesstrafe? Aber ja, alles drin, alles mit dabei. Wer gerne klassischen Erzählern folgt, die ihre Motive zu perfekten Paketen verschnüren, wird hier irritiert sein. Denn diese Geschichte, der Eastwood so beharrlich in allen Wendungen folgt, verweigert sich dem Wunsch nach Auflösung. Wo in Wirklichkeit Zweifel blieben, wird auch der Film keine Antworten geben - und die Hinrichtung eines Verurteilten ändert daran schon gleich gar nichts.

Unkontrollierbarer Wahnsinn

Aber dann ist es doch so, dass aus ganz verschiedenen Richtungen, in einer Art experimentellen Zangenbewegung, Erkenntnisse eingekreist und schließlich dingfest gemacht werden. Sie tragen ein großes Potential an Wut in sich - und man meint zu spüren, dass diese Wut auch Eastwood selbst antreibt. Es geht um den Wahnsinn, dem man sich zum Beispiel gegenübersieht, wenn eine unkontrollierbare Sicherheitsbürokratie beginnt, ihre eigene Realität zu schaffen.

Dann sagt der Verstand, dass ein neunjähriger Junge nicht innerhalb eines halben Jahres um fünf Zentimeter schrumpfen kann. Doch Polizisten und Ärzte reden so lange, bis sie wegerklärt haben wollen, was nicht wegzuerklären ist. Genauso - diese Verbindung muss dann aber der Zuschauer selbst ziehen - wirkte oft genug das Realitätsverständnis der Bush-Administration.

Und die Rechtlosigkeit einer Frau, die allein durch die Unterschrift eines Polizisten weggesperrt werden kann - erinnert sie nicht an das Gefühl, dass heute Guantanamo-Häftlinge haben müssen? Im Grunde geht es hier um Terror von Staats wegen, um einen Polizeistaat, der sich für kurze Zeit mitten in Amerika ausbreiten konnte. Und doch: Amerika wäre bei Eastwood nicht Amerika, wenn seine aufrechten Bürger das nicht schon nach kurzer Zeit mit Donnerhall korrigieren würden. In unseren Gerichtssälen, scheint er zu sagen, bleibt noch einiges zu tun.

CHANGELING, USA 2008. Regie: Clint Eastwood. Buch: J. Michael Straczynski; Kamera: Tom Stern. Mit Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan. Universal, 142. Min.

© SZ vom 21.1.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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