Reformation:Der Unbekannte

Eine großartige Biografie trägt zusammen, was man über den radikalen Theologen Thomas Müntzer wissen kann. Es ist sehr wenig.

Von Johann Hinrich Claussen

Es luthert ungemein. Je näher das Reformationsjubiläum rückt, umso mehr Bücher über Martin Luther erscheinen. Doch nicht bei all diesen neuen Biografien und Einzelstudien erkennt man sofort, ob sie gegenüber der 2012 erschienenen Luther-Biografie von Heinz Schilling etwas Neues und Besseres zu bieten haben. Vor allem wundert man sich über die Einfallslosigkeit, gibt es doch eine Fülle ebenfalls bedeutender Gestalten der Reformation, über die zu erzählen sich lohnte. Deshalb ist es ein Glücksfall und zugleich ein Akt historischer Gerechtigkeit, dass auch eine umfangreiche Thomas-Müntzer-Biografie erschienen ist. Geschrieben wurde sie von zwei Autoren, die einen Großteil ihres langen Lebens dem vielleicht wichtigstem Widersacher Luthers gewidmet haben, dem 86-jährigen Pastor und Kirchenhistoriker Siegfried Bräuer sowie dem 83-jährigen Frühneuzeithistoriker Günter Vogler.

Liest man ihr Werk, ist man erstaunt und dann zunehmend erschrocken darüber, wie wenig gesichertes Wissen es über diesen Theologen und Rebellen gibt. Akribisch sind die Autoren allen nur möglichen Archiv-Spuren gefolgt, haben abgelegenste Dokumente ausgewertet und dabei doch wenig gefunden. Gewissenhaft führen sie ihre kleinen Mosaiksteine auf. Mit bewundernswerter Transparenz legen sie aber vor allem dar, was sie nicht haben klären können.

Zeitgenössisches Porträt des Thomas Müntzer (1489 - 1525)

Zeitgenössisches Porträt des Thomas Müntzer (1489 - 1525).

(Foto: Christoph van Sichem/Gemeinfrei/public domain)

Müntzers Ursprünge liegen im Dunkeln: Wann er geboren wurde, wie seine Eltern hießen, welchen Beruf der Vater hatte, lässt sich nicht ermitteln. Offen muss auch bleiben, wie sein Bildungsweg verlief: Was hat ihn geprägt, welche Freundschaften hat er geschlossen? So geht es weiter. Wann ist Müntzer zum ersten Mal auf Luther-Schriften gestoßen, und was haben sie bei ihm ausgelöst? Wie genau hat er sich vom Wittenberger Reformator inspirieren und anstacheln lassen? Wann begann er, eigene Wege zu gehen? Genau kann man das alles nicht sagen. Eine Biografie, die zeigen will, wie jemand zu einer historischen Gestalt wurde, lässt sich da eigentlich nicht schreiben.

Dem Leser beschert das viele Nichtwissen aber eine Einsicht. Von Luther ist man gewohnt, dass es zu allen Aspekten seines erwachsenen Lebens reichhaltige Quellen gibt. Wenn man dagegen die Biografie seines Kontrahenten liest, wird einem klar, was für eine epochale Ausnahme dies war. Für gewöhnlich hinterließen auch wichtige Figuren der damaligen Zeit nur wenige Spuren - und Müntzer, als Verfolgter und Gescheiterter, fast gar keine. Man wundert sich im Nachhinein, zu welch eindeutigen Urteilen - Verdammungen oder Vereinnahmungen - es später in der Müntzer-Rezeption kommen konnte.

Leseprobe

Einen Auszug aus der Biografie stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Im Gegensatz dazu beweisen Bräuer und Vogler Vorsicht. Genau beschreiben sie das jeweilige Umfeld des ruhelos Umherziehenden. Sie stellen seine ersten öffentlichen Äußerungen vor: antischolastische Predigten, Polemiken gegen das Mönchswesen und apokalyptische Zeitansagen, die zwar schroff, aber nicht ungewöhnlich waren. Irgendwann muss sich Müntzer radikalisiert haben. Er verkündete ein exklusives und enthusiastisches Christentum. Die wahren Gläubigen waren für ihn die kleine Schar derer, die Gottes Geist empfangen haben und im Leiden "mit Christus gleichförmig" geworden sind. Irgendwann verband sich diese sektenhafte Frömmigkeit mit dem Aufruhr der Bauern. Für Müntzer scheint der Bauernaufstand der "Kairos" gewesen zu sein, die Ungläubigen zu vernichten und das Reich Gottes mit Gewalt herbeizuzwingen. Die von ihm entworfene Regenbogenfahne bot dafür das Symbol: Eine Sintflut sollte alle Bösen töten und den Gottesbund der wenigen Erwählten aufrichten (was wohl heutige Regenbogenfahnenträger dazu meinen würden?).

Die katastrophale Niederlage von Frankenhausen am 15. Mai 1525 beendete Müntzers sozialutopisches Experiment, dessen exaktes Profil sich nicht ermitteln lässt. Deutlich ist immerhin, dass Müntzer eine konsequente, wenn auch unmögliche Alternative zu Luthers Reformation aufgestellt hat. Er bleibt ein Unbekannter. Darin mag ein tieferer Sinn liegen. Denn seine Frömmigkeit war nicht von dieser Welt. Davon vermittelt diese Biografie einen guten Eindruck. Selten hat man ein Buch mit solchem Gewinn gelesen, das sich so schwer damit tut, gesicherte Erkenntnisse vorzulegen.

Reformation: Siegfried Bräuer, Günter Vogler: Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016. 542 Seiten, 58 Euro.

Siegfried Bräuer, Günter Vogler: Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016. 542 Seiten, 58 Euro.

Siegfried Bräuer, Günter Vogler: Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016. 542 Seiten, 58 Euro.

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