Referendum in der Türkei:Erdoğan im Wahn des Drachen

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In der Nähe der ostanatolischen Provinzhauptstadt Van hütet dieser kurdische Schäfer seine Herde.

(Foto: Mustafa Ozer/AFP)

Der türkische Präsident trat in seinen Reden vor dem Referendum als guter Hirte des Volkes auf. Darin steckt eine Drohung.

Gastbeitrag von Sema Kaygusuz

Der Drache in türkischen Märchen war im Vergleich zu fernöstlichen stets fürchterlich. Unser Drache verfügt nicht über Zauberkräfte, mit denen er hehre Seelen hütet. Er ist ein blutrünstiges Ungeheuer, das Städte dem Erdboden gleichmacht und fruchtbares Land verwüstet. Dieser hasserfüllte gigantische Lindwurm verlor auf dem Weg von China bis in den Mittelmeerraum mit seinen Flügeln auch alle moralischen Vorzüge und nahm einen hitzig aufbrausenden, satanischen Charakter an.

Ich kenne ein frappierendes Märchen, in dem ein derart wüster Drache die Hauptrolle spielt. Auf gesegnetem Boden, am Hang eines mächtigen Berges lag einst ein Dorf. Die Menschen dort lebten alles in allem zufrieden vor sich hin. Bis ein Drache, von dem niemand wusste, woher er gekommen war, das Dorf heimsuchte. Er plünderte die Wein- und Öllager, erlegte die Ziegenherden und zog sich erst in seine Höhle auf dem Berggipfel zurück, wenn den Bauern kein Bissen mehr verblieben war. Der Drache aber setzte Tag für Tag mehr Fett an und wurde prächtiger und prächtiger.

Bald waren die Bauern bereit, arme Hirten ohne Angehörige zu opfern, um die Drachenplage loszuwerden. Jahr für Jahr erwählten sie einen, unterwiesen ihn ein Jahr lang in der Kampfkunst, fütterten ihn mit den letzten verbliebenen Speiseresten und schickten ihn auf den Berg, damit er den Drachen tötete. Doch zu allem Unglück kehrte von all den so gewappneten Krieger-Hirten kein einziger zurück. Nach einigen Jahren gab es keinen erwachsenen Hirten mehr, der gegen den Drachen hätte kämpfen können. Da wählten sie notgedrungen einen Jüngling, dem noch nicht einmal der Bart spross. Der Hirtenjunge war aber so begabt, dass er in kürzester Zeit ein Meister im Bogenschießen wurde. Überzeugt, er sei bereit, veranstaltete das Bauernvolk ein großes Fest und schickte den jungen Burschen, begleitet von Gebeten, gegen den Drachen.

Einen Tag lang stieg der junge Hirte den Berg hinauf, dann stand er vor dem Eingang zur Drachenhöhle. Als er eintrat, blendete ihn ungeheurer Reichtum. Da gab es büschelweise Obst und Speis und Trank im Überfluss. Schatztruhen, betörende Juwelen, Säcke voller Weizen, Amphoren mit Traubenmost, Krüge voll Wein und was nicht noch alles. Inmitten der Fülle, die der Hirtenjunge sich niemals auch nur hätte träumen lassen, schlummerte in tiefster Ergebenheit der so unerbittliche wie prachtvolle Drache. Der Hirte spannte den Bogen, ließ den Pfeil von der Sehne schnellen und tötete mit einem einzigen Schuss mühelos den Drachen, ohne das jener auch nur aus dem Schlaf geschreckt wäre. Er konnte es selbst kaum glauben, wie leicht das war. Zum Beweis, dass er den Drachen tatsächlich getötet hatte, schnitt er dem Ungeheuer das Herz heraus und steckte es in die Tasche.

Der Drache ist zweifellos einer von uns. Ein Landsmann.

Nun warf unser heroischer Hirte noch einen Blick in die Tiefen der Höhle. Geradezu zwanghaft berührte er alles, prüfte das Gold, probierte die Speisen, eroberte, von Lust und Genuss berauscht, Berührung um Berührung, Zentimeter für Zentimeter die ganze Höhle. Nach ein paar Stunden war der Hirte kein Hirte mehr. Zuerst wuchs ihm ein gezackter Schwanz, dann Klauen. Bald war er vollkommen in einen Feuer speienden Drachen verwandelt. Er trat vor die Höhle und brüllte mit furchtbarem Hunger ins Dorf hinunter. Als die Bauern die entsetzliche Stimme des Drachen hörten, trauerten sie voller Mitleid und Enttäuschung um den jungen Hirten.

Der Drache ist zweifellos einer von uns. Ein Landsmann. Ein Mitbürger. Der Hirte und alle jungen Männer vor ihm stecken im Drachen. Die Dorfbewohner stellten dem Drachen eine Phalanx von Märtyrern entgegen, damit vernichteten sie aber zugleich sich selbst, denn sie ließen sich auf das System des Lindwurms ein. In dieser Hinsicht ist der Drache nicht die Gesamtheit der Auferstandenen - Auferstehung erfolgt im eigenen Leib -, sondern der erwachten, ergrimmten Toten. Zum Leben erwachten Toten reicht es nicht, das Schicksal der Lebenden zu zerstören, sie wüten und verwüsten mit dem Neid der Toten. Was dieses Drachenmärchen, das den Marsch aller Angst und Bewunderung auslösenden Despoten, Diktatoren und Faschisten zur hegemonialen Macht schildert, zu einer der Türkei wie auf den Leib geschneiderten Allegorie macht, ist aber der Hirte in der Geschichte.

Im vergangenen November sagte Präsident Erdoğan auf der Tagung des Nationalen Agrarkongresses: "Auch ich bin ein Hirte". Erstaunlich, dass der Hirte im Meer der Ikonen, Figuren, Archetypen, Symbole und Mythen unserer Weltkultur seither nicht den Status eines Archetypus erlangt hat. In vielen Sagen steckt er gleichsam auf dem Niveau eines unverzichtbaren Bestandteils, wie in Bildungsromanen, als müsste der Held ein gewöhnlicher Hirte gewesen sein, bevor er zum wahren Helden aufsteigt. Dabei war der Hirtenberuf für mythologische Helden wie Paris, aber auch für zahllose historische Feldherren die erste Lebensbildung.

"Auch ich bin ein Hirte"

Präsident Erdoğan mahnte, den Hirtenberuf nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, und fuhr fort: "Wer die Philosophie des Hirtentums nicht versteht, kann keine Menschen führen. Auch ich bin ein Hirte. Ihr alle seid Hirten, ihr alle seid verantwortlich für jene, die ihr hütet, gebot unser Prophet." Obacht, der Staatspräsident sagte: "Auch ich bin ein Hirte", um, entgegen dem Eindruck, er setze das Volk mit einer Schafherde gleich, rasch zu ergänzen: "Ihr alle seid Hirten." So band er das Publikum als Gemeinschaft der Hirten an sich und machte sich zum Oberhirten. Die anwesenden künftigen Hirten sollten die Haltung des Staatspräsidenten, sobald sie zu ihrer eigenen Hirtengemeinschaft sprechen würden, als Oberhirten der eigenen Hirten wiederum fortsetzen und weiter Macht anhäufen.

In der Autorität-Gehorsams-Beziehung in den Agrargesellschaften der Frühzeit entstand das Modell des "Hirten als Anführer", dank der Offenbarungsreligionen, die mit der Übertragung der Hirtenaufgabe auf den als Krone der Schöpfung betrachteten Menschen der grenzenlosen Ausbeutung der Natur den Weg ebneten, breitete es sich aus. In diesem Modell bleibt zwar diffus, wer wen hütet, doch das Wort Hirte ist derart etabliert und so alt, dass es, wird es ausgesprochen, im Geist von Millionen unmittelbar seinen Platz findet. Der Hirte ist als abstrakte Dimension in unserem Gedächtnis vorhanden. Als Gott oder als eine sehr gottnahe Figur. Hirten als Anführer, die Menschen hüteten, gab es in den altorientalischen Gesellschaften, wie in Ägypten, Assur, Palästina.

In den Gesetzen Assurs war das Volk die Herde, der König ihr Hirte, die Herde gehörte bedingungslos dem Gott. Die Hebräer vertieften dieses Motiv, für sie übte der Hirte seine Macht nicht über ein Stück Boden aus, sondern über die Herde. Der Hirte scharte seine Herde um sich, wies ihr den Weg und sorgte für ihr Wohlergehen, indem er sie anführte.

Bei den Griechen hingegen war der Hirte eine starke Metapher in der Moralphilosophie. "Gerechtigkeit ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren", urteilte der Spätsophistiker Thrasymachos. Beim Hohnangriff auf Sokrates' Gerechtigkeitsidee plädierte er zunächst dafür, Schaf und Hirten auseinanderzuhalten, um dann zu polemisieren: "Weil du glaubst, die Schaf- oder Rinderhirten sehen auf das Beste ihrer Schafe oder Rinder und haben, wenn sie sie mästen und pflegen, etwas anderes im Auge als das Beste ihrer Herrn und ihr eigenes Bestes, und ebenso glaubst, die in einem Staate Regierenden - wenn sie wahrhafte Regierer sind - seien gegenüber den Regierten anders gesinnt, als man es Schafen gegenüber ist, und denken Tag und Nacht an etwas anderes, als wie sie sich selbst nützen können." Der Hirte und sogar Hirtenhunde aus Platons Staat kommen als Analogie für Staatsmänner häufig vor. Zu Glaukon sagte Platon: "Und wir haben ja in unserem Staate die Helfer gleichsam als Hunde aufgestellt, gehorsam den Regierenden, gleichsam den Hirten des Staates."

Am einfachsten wäre es, wenn jedes Individuum in der Herde nur Körper wäre

Angesichts des Hirtenvergleichs Erdoğans auf einer landwirtschaftlichen Tagung, können wir festhalten, dass die gehütete und geführte Herde der Menschenleib ist. Dass aber die gehütete Herde zugleich Wählerschaft ist, macht die Dinge kompliziert. Für einen Hirten wäre es natürlich das Einfachste, wenn jedes Individuum in der Herde einfach nur Körper wäre. Dann könnte der Anführer-Hirte seine Autorität sichern, indem er allein für die Befriedigung triebhafter Grundbedürfnisse wie Ernährung, Unterkunft, Sicherheit und Gesundheit sorgte. Voraussetzung dafür, dass der Bürger bloße Physis bliebe, wäre in diesem Kontext, ihn auf triebhaftem Niveau zu halten.

Die Pastoralmacht, von der Michel Foucault in seiner Schrift "Omnes et singulatim" spricht, ist die Autorität des Hirten, der seine Herde beaufsichtigt und jeden einzelnen Körper hütet. Im voraufgeklärten Christentum erwartete der Hirte als jemand, der sich seiner Herde, den Gläubigen, geweiht hat, unbedingten Gehorsam. Aus Sicht der Untergebenen, die sich Gottes Willen unterwerfen, benötigt die Pastoralmacht keine Legitimation. Es drängt sich der Gedanke auf, dass es womöglich Abel war, der die Idee göttlicher Herrschaft, die das Mittelalter prägte, in allen himmlischen Religionen etablierte.

Nicht allein die Idee göttlicher Gerechtigkeit entsprang dem Desaster des vom Bruder gemordeten Hirten, so manch ein Hirten-König, der im Lauf der Geschichte die Macht ergriff, führte die usurpierte Macht Abels mit dem tiefen Gefühl fort, Opfer und damit im Recht zu sein.

Die Gesellschaft verschwimmt zu einem diffusen Bild

Nach Abel waren die Propheten Isaak, Amos und Moses Hirten. Al-Bucharis Überlieferung zufolge hütete auch der Prophet Mohammed vor seiner Zeit als Kaufmann die Schafe der Bewohner von Mekka. Aufgrund seines Ausspruchs "Gelassenheit und Würde ist bei denen, die Schafe halten" herrscht in der islamischen Welt die Auffassung, bei Hirten habe sich ein weiter Horizont des Denkens und ein Gefühl von Würde und Barmherzigkeit herausgebildet. Ein Hirte, der die Willenskraft besitzt, allein mit seiner Herde in einem Tal zu weilen, erlangt durch beständiges Beten zu seinem Gott Tugend. Zugleich aber beweist ein Viehhüter nicht nur die Fähigkeit, seine Herde regelmäßig von einem Weidegrund zum anderen zu treiben. Mit Geduld und Aufmerksamkeit gelingt es ihm auch, sie vor Raubtieren zu schützen.

In vielen für Staatslenker geschriebenen Empfehlungen und Unterweisungen für gute Politik , in denen die Tradition mittelalterlicher islamischer Staatsführung festgeschrieben wurde, taucht der Hirte auf. Ihm wurde ein guter Regierungsstil zugeschrieben. Einerseits kristallisiert sich dabei das Ideal des Hirten-Herrschers heraus, andererseits verschwimmt die Gesellschaft, die es als Herde zu hüten gilt, zu einem diffusen Bild. Der Hirten-Herrscher erscheint generell nicht als gnadenlos, rachsüchtig und intrigant, sondern als barmherzig. Seine Aufgabe ist es, die Herde am Leben zu halten. "Ohne Herrscher", schrieb Ebû Mansur es-Seâlibi, "fräßen die Menschen einander auf! Genau wie Raubtiere die Herde fressen, wenn kein Hirte da ist."

Warum kehrt der Hirten-Herrscher, der seit dem 15. Jahrhundert bei den Osmanen, für die auch der Sultan ein Untertan des Staates war, und kaum noch als Vergleich herangezogen wurde, heute in Begleitung von Propheten-Aussprüchen zurück? Woraus besteht die Herde in der Vorstellung des Hirten von heute, in diesen wahnwitzigen Zeiten, da die Talare von Akademikern über den Boden geschleift und unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zur Gülen-Terrororganisation Tausende Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden, da Journalisten in einer niemandem bekannten Anzahl im Gefängnis sitzen, die Ko-Vorsitzenden und einige Abgeordnete der HDP, der einzigen sichtbaren Oppositionspartei der Türkei, nach Aufhebung ihrer Immunität inhaftiert wurden, da die Medien vollkommen unter Druck stehen, da in den kurdischen Provinzen weiter Menschenrechte verletzt werden und Europa nur zuschaut, da junge Leute vor unseren Augen exekutiert und zahllose Menschen mit widersinnigen Vorwürfen zu Terroristen erklärt werden, nur weil sie sich an Nein-Kampagnen beteiligt haben, und da über Flüchtlinge wie über Kriegsgefangene verhandelt wird?

Aus Wählern besteht diese Herde, so inakzeptabel das sein mag. Mit diesen Wählern sollte eine Abstimmung durchgeführt werden, bei der es keinesfalls eine Wahl geben sollte. In einem parlamentarischen System wurden alle demokratischen Mittel instrumentalisiert, um in einer Atmosphäre des Unrechts und größter Ungleichheit den Wählern eine unfassbare Wahl aufzuzwingen. Die Frage, geben wir einem Mann allein die gesamte Macht in die Hände oder nicht, wird auf den Markt geworfen, als handelte es sich um ein demokratisches Produkt. Dabei kann auf eine derart schiefe Frage die Antwort weder Ja noch Nein lauten. Dementsprechend war das von den Wählern eingeforderte JA keine Wahl, sondern ein strikter Befehl.

Nun ist die Herde, die hier bislang noch ungenügend beschrieben wurde, an den Tag gekommen. Wie Elias Canetti in "Masse und Macht" beschreibt, ist die Herde der Befehle empfangende Mensch. Jeder ausgeführte Befehl hinterlasse einen Stachel im Menschen. Er assimiliere sich nie. Er bleibe ein Fremdkörper. Deshalb empfinde sich der Mensch, der unter Befehl gehandelt hat, als unschuldig. Er empfinde sich als Opfer. Er sei ein Opfer mit Stachel, das seinen Henker sucht. Nie aber habe er für das wahre und eigentliche Opfer ein Gefühl. Denn er ist selbst der Täter. Um den Befehl auszuführen, schummelt und schwindelt er, bemächtigt sich mit allerhand Intrigen des Willens jener, die Nein sagen. Hauptsache der Befehl wird umgesetzt. Was den Hirten betrifft, kann er, einmal in den Drachen verwandelt, nie wieder zu seiner Herde zurück. Für ihn besteht die Welt fortan nur noch als Beute.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die Autorin Sema Kaygusuz wurde 1972 in Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste geboren, wuchs in Anatolien auf, studierte in Ankara und lebt seit 1994 in Istanbul. 2010 war sie Gast des DAAD in Berlin, 2016 erhielt sie den Coburger Rückert-Preis. Auf Deutsch erschienen von ihr der Roman "Wein und Gold" (2008) bei Suhrkamp und der Erzählungsband "Schwarze Galle" (2013) in der DAAD-Buchreihe bei Matthes & Seitz.

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