Rechtsprechung ohne freien Willen?:Die Gedanken sind Freiwild

Neueste Neurologie will nur noch einen willenlosen Hirnapparat im Kopf entdeckt haben. Unser Autor hat eine Tagung besucht, die nun das Problem wälzte, was die Verabschiedung des freien Willens und der persönlichen Verantwortungfür das Strafrecht bedeuten würde. Der himmelschreiende Report.

Rainer Maria Kiesow

Sind wir nun frei oder nicht? Möchten wir, was wir sagen, oder sagen wir nur, was wir sagen müssen? Tun wir, was wir wollen, oder können wir nicht anders, als das zu tun, was wir tun? Sind wir wie Woyzeck, der an die Wand pissen musste? "Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt". Regiert uns der freie Wille oder der willenlose Hirnapparat? Viel gab es darüber zu lesen. Die Zeitungen und Magazine waren einige Zeit voll von Debatten über die Willensfreiheit. Philosophen, Neurologen in allen möglichen Schattierungen. Auch ein paar Juristen darunter.

Rechtsprechung ohne freien Willen?: "Alle pädophilen Mörder haben schwere Hirnschäden". Von Schuld könne hier nicht gesprochen werden, da die Möglichkeit des "Anders-Handeln-Könnens" nicht gegeben sei.

"Alle pädophilen Mörder haben schwere Hirnschäden". Von Schuld könne hier nicht gesprochen werden, da die Möglichkeit des "Anders-Handeln-Könnens" nicht gegeben sei.

Wolf Singer und Jürgen Roth sind die beiden Hauptmatadore auf Seiten des jüngsten naturalistic turn in Sachen Willen. Singer forscht in Frankfurt. Er stellt den freien Willen in Frage. Den einen Beweger in unserem Kopf, das eine Ich gibt es nicht, ein dezentrales Netzwerk regiert unser Handeln. Doch wissen wir noch nicht so genau, wie das im Einzelnen funktioniert. Singer ist bei allem Naturalismus immer skeptisch. Ein Erforscher eben. Vielleicht war er deshalb nicht dabei in Frankfurt.

Dabei war der Kollege Jürgen Roth. Es war eine Podiumsdiskussion in der Aula der Frankfurter Universität. Es ging um die Folgen neurobiologischer Forschung für unser Verständnis von Schuld und Strafe ("Entmoralisierung des Rechts: Ist unser Strafrecht veraltet?"). Denn wenn der Wille nicht frei ist, dann kann auch nicht von Verantwortung und Schuld gesprochen werden. Der Mörder muss morden, ob er will oder nicht. Roth breitet das aus: "Jeder Mensch handelt so, wie seine Persönlichkeit - bestimmt durch Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Erfahrung und spätere Sozialisierung - es vorschreibt." Determinismus also, Motiv-Determinismus. "Alle pädophilen Mörder haben schwere Hirnschäden". Von Schuld könne hier nicht gesprochen werden, da die Möglichkeit des "Anders-Handeln-Könnens" nicht gegeben sei.

Darüber kann man reden. Das Strafrecht verhandelt darüber immer dann, wenn es Zweifel daran gibt, dass der Täter in der Lage war, sich normgemäß zu verhalten. Roth radikalisiert diese einzelfallbezogenen Zweifel, indem er die Schuldfähigkeit von Menschen - und damit die Berechtigung zu strafen - prinzipiell bestreitet. Denn wo kein freier Wille, da ist auch keine Schuld. Wenn das alles nur nicht im Gestus des absoluten Wissens vorgetragen würde! "Wir haben das ganz genau untersucht". "Wir wissen jetzt". "Keine Zweifel". "Ein ehemaliger Mitarbeiter von mir hat in der Zeitschrift Nature den Beweis geführt". Ich und wir - wir wissen, wie es wirklich ist.

Auf dem Podium saß auch der Initiator der Veranstaltung, Klaus-Jürgen Grün, ein Philosoph. Auch er weiß viel darüber, wie es um die Freiheit des Willens steht. Und dass die Idee der Willensfreiheit nur dazu dient, die philosophischen Lehrstühle der Republik zu erhalten, und deshalb dort die neuen Beweise der Neurowissenschaften ignoriert würden. Denn wo kein freier Wille, da ist auch kein Kant. Und wo kein Kant, da ist auch keine Philosophie. Und wo keine Philosophie, da sind auch keine Philosophieprofessoren. Dann müssten die ja wieder Taxi fahren. Und das können die natürlich nicht wollen. Aber was kann einer schon wollen? - blieb die ungestellte Frage an den Privatdozenten Grün.

Dabei waren noch drei Juristen. Dr. jur. Michel Friedman, Rechtsanwalt, Publizist, Journalist, Fernsehmoderator und Doktorand der Philosophie bei Klaus-Jürgen Grün. Die Freiheit des Willens ist auch für Friedman perdu. Unser aktuelles Strafrecht ist - wo kein Wille, da kein Strafzweck - ein lediglich "im Gewande wohlklingender Worte" daherkommendes inhumanes Racheorgan. Nicht Rache brauchen wir, sondern Therapie. Das hatten Roth und Grün auch schon gesagt.

Dr. jur. Ulrich Baltzer ist pensionierter Richter. Die menschliche Vernunft in Person. Er macht darauf aufmerksam, dass das Strafrecht es nicht mit unumstößlichen Wahrheiten zu tun hat - im Übrigen also schon deshalb einen ganz anderen Horizont besitzt als die Naturwissenschaften -, sondern Personen Verantwortung für ihr Handeln zuschreibt. Der Annahme oder Ablehnung einer Willensfreiheit bedürfe es für diese Zuschreibung gar nicht.

Der dritte Jurist hatte in Frankfurt als Erster gesprochen. Er musste danach gleich wieder gehen, so wie es eben ist, wenn man wirklich wichtig ist und nicht nur Professor, Privatdozent, Doktorand oder Rentner. Eine nicht wirklich sympathische Figur - die Presse ist selten freundlich zu ihm. Und was soll man schon von jemandem halten, der sagt: "Jeder Mensch ist ein potentieller Verbrecher". Das klingt irgendwie ungut. Doch bei genauerem Nachdenken erweist sich dieser Satz als der Schlüsselsatz dieses Frankfurter Nachmittags.

Denn in der Möglichkeitsbehauptung steckt die Freiheit, die der naturalistische Determinismus uns austreiben möchte. Es war dem hessischen Justizminister Jürgen Banzer vorbehalten, den empiristischen Träumereien von Roth, Grün und Friedman von Beginn an den Stachel der Skepsis entgegenzuhalten. Von wegen "Unsinnigkeit" der Annahme von Willensfreiheit! Was wissen wir eigentlich? Angesichts der Komplexität der Hirn-Sache doch fast nichts! Die Moral gehört zum limbischen System - ja und? Was bedeuten denn die feuernden Neuronen und flackernden Synapsen? Und ist das nicht alles Induktion? Alle Schwäne sind weiß, bis einmal ein schwarzer auftaucht. Abgesehen davon, dass aus den Apparaturen herauskommt, was man vorher hineingesteckt hat. Bildgebende Verfahren in den Neurowissenschaften - die Bilder werden von den Rechnern errechnet, was hinter den Rechnungen der Rechner wirklich steckt - wer weiß? Und immer wieder: Was bedeutet das eigentlich?

Und dass es den freien Willen nicht mehr geben soll - das muss erst einmal bewiesen und der Beweis nicht nur behauptet werden. Doch wie soll die Nichtexistenz von etwas überhaupt bewiesen werden? Und immer wieder auch: Komplexität des Hirnlebens, das sich einer sicheren Beschreibung entzieht. Reden wir nicht vom Verstehen. Der Justizminister: ein bodenständiger Mann und ein wissenschaftstheoretischer Skeptiker.

Außer dem pensionierten Richter war dann niemand auf dem Podium mehr an der ministeriellen Frage nach der Grundlegung des Neurowissens interessiert. Michel Friedman sagte zwar zu Recht, dass die Annahme eines freien Willens eine historische Gegebenheit sei. Auf den Gedanken, dass die Annahme der Willenlosigkeit genauso der vergänglichen Geschichte ausgesetzt ist, kam er nicht.

Und die, von den heutigen Neurowissenschaften her gesehen, Greisenhaftigkeit des Strafrechts? Nun, für den Abolitionismus gibt es viele und auch gute Gründe. Dass zum Beispiel eine Vielzahl von Eigentumsdelikten nicht unbedingt in den Apparat des Strafens, sondern vielleicht eher in einen Apparat pekuniärer Kompensation gehört, lässt sich hören. Für den Abolitionismus naturwissenschaftlicher Provenienz gibt es jedenfalls nicht den Grund, den deren Vertreter so überzeugt anführen, den Beweis nämlich, dass der freie Wille nicht existiert. Recht, Strafrecht inklusive, ist eine Sache von Zweifeln, Auslegungen, Interpretationen. Daraus resultieren Zurechnungen, die menschengemacht sind. Was vermeintliche naturwissenschaftliche Sicherheiten ausrichten würden, ist nicht ausgemacht. Ob es humaner ist, Gesetzesbrecher in die Fänge des medizinal-therapeutischen Komplexes zu geben als ins Gefängnis zu stecken, ist sehr die Frage. Einem Sein kann man nicht entrinnen, die Therapie wird zum fragelosen, rettungslosen Dasein. Michel Foucault, Pierre Legendre und ihre Analysen der therapeutischen Menschenzurichtungsmaschinenparks - Fehlanzeige, genauso wie der alte Materialismusstreit. Recht jedenfalls ist prekär, unsicher, revisionsfähig, interpretationsbedürftig. Darin liegt sein Menschenmaß.

Eine Frage zum Schluss. Mörder, Pädophile, Vergewaltiger treten nicht massenhaft in Erscheinung. In Massen schließen wir Verträge. Kaufverträge, Mietverträge, Arbeitsverträge. Ein Vertrag besteht typischerweise aus zwei übereinstimmenden Willenserklärungen. Welche Auswirkungen hat die ultramoderne Hirnforschung eigentlich auf das, willensmäßig betrachtet, offenkundig ebenfalls völlig altmodische Zivilrecht? Hier sind die Dimensionen ganz andere als bei ein paar Mördern. Aber Zivilrecht ist ziemlich kompliziert. Auf die Antworten des neuen Neurorechts darf man gespannt sein. Doch wir könnten natürlich das Privatrecht gleich mit abschaffen. Wo kein Wille, da kein Recht. Strafrecht ist da nur eine Fußnote. Das wär"s: Legal, illegal, scheißegal!

Der Autor ist Privatdozent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main und Referent am dortigen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte.

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