Rechtsphilosophie:Mehr Möglichkeitssinn

Jenseits von Sollen und Müssen: Christoph Möllers zeigt in einer grandiosen Studie, warum und wie Normen Spielräume eröffnen.

Von Martin Bauer

Keine Biologin braucht eine Norm, um zu erklären, warum sich Pflanzen ins Licht der Sonne drehen. Da wirken Naturgesetze, wie sie die Pflanzenphysiologie entdeckt hat. Anders verhält sich die Sache, soll verständlich werden, dass Lebensformen existieren, in denen Männer Frauen den Vortritt beim Betreten eines Aufzugs lassen, Kinder mit Sanktionen rechnen müssen, falls sie ihre Eltern belügen und der Gebrauch eines Fahrrads unter Umständen strafrechtlich geahndet wird, sind Nutzer und Eigentümer des Verkehrsgerätes nicht dieselbe Person. Offenbar lassen sich gewisse Handlungsweisen nur richtig beschreiben und verstehen, wenn normative Vereinbarungen ins Spiel kommen. Innerhalb der Gattung dieser Regeln sind verschiedene Arten erkennbar. Benimmregeln sind etwas anderes als moralische Gebote, solche Gebote wieder etwas anderes als Gesetze. Was aber macht bei allen Unterschieden den normativen Charakter derjenigen Vorschriften, Standards, Wertungen und Identitäten aus, ohne die Sozialität undenkbar ist?

Diese Fragestellung greift Christoph Möllers, der an der Humboldt Universität Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie lehrt, in seinem jüngsten Buch auf. Schon der erste Satz setzt den Ton und beleuchtet den Zugriff: "Wir wissen von Normen so wenig, weil wir so sehr damit beschäftigt sind, sie zu rechtfertigen." Möllers geht es um den Entwurf einer Wirklichkeitswissenschaft normativer Praktiken. Dem Erklärungswert von Großtheorien, seien sie im Umkreis von Jürgen Habermas oder in Griffnähe zum Zettelkasten von Niklas Luhmann konzipiert, misstraut er zutiefst. Also müssen Sichtweisen wissenschaftlicher Normbeobachtung, die zumal in intellektuellen Milieus der Bundesrepublik gut eingespielt sind, verändert, wenn nicht abgeräumt werden. Im Fokus steht deshalb nicht mehr die Legitimation von Normen oder Verfahren, sondern eine gründliche Inspektion derjenigen Praktiken, in denen soziale Normen wirksam sind.

Mit Sorgfalt, Augenmaß und Scharfsinn zeigt Möllers, wie vielfältig, komplex und hybrid die normativen Praktiken einer Gesellschaft sind. Seine Sondierungen ermitteln, wie soziale Normen in der Praxis operieren, wie es um ihre Erkennbarkeit steht, wie ihre Autorisierung von statten geht, was geschehen muss, um sie situativ durchzusetzen, was die Formalisierung von Normen verlangt und welche Unkosten dabei anfallen. Sie beeindrucken sowohl durch die Weite des Blicks als auch durch die Feinkörnigkeit der analytischen Erträge. Möllers steuert nichts Bescheideneres als eine Komparatistik an, "die nicht nur französische und spanische Romane oder kanadische und südafrikanische Verfassungen miteinander vergleicht, sondern französische Romantheorie mit deutscher Rechtstheorie, roman expérimental mit naturalistischer Kriminologie oder die protestantische Gnadenlehre mit der Genieästhetik".

Was sich abzeichnet, ist eine allgemeine und vergleichende Normwissenschaft, die dezidiert empirisch verfährt. Ob eines Tages eine überzeugende Theorie vorliegen wird, der eine systematische Vereinheitlichung des faktischen Pluralismus normativer Praktiken gelingt, hält Möllers für eine offene Frage. In der Zwischenzeit favorisiert er den Habitus eines normwissenschaftlichen Antifundamentalismus: lieber Wissen nüchtern sichern, als die Energie ganzer Exzellenzcluster in zu hoch gesteckte Ziele investieren.

Rechtsphilosophie: Nijinsky, der Star der Ballets Russes, in der Rolle eines schwarzen Sklaven in "Scheherazade", gezeichnet von Georges Barbier (Ausschnitt).

Nijinsky, der Star der Ballets Russes, in der Rolle eines schwarzen Sklaven in "Scheherazade", gezeichnet von Georges Barbier (Ausschnitt).

(Foto: Dessins sur les danses de Vaslav Nijinsky, Belle Édition, 1913)

Möllers Befunde gestatten ihm, Idealisierungen zu korrigieren, zu denen insbesondere die sozialphilosophische Reflexion auf normative Ordnungen tendiert. Ihn stört unter anderem die eklatante Machtvergessenheit der Theorien, die Vernunft und Normativität zusammendenken. Gleichzeitig geraten Reduktionismen in den Blick, derer sich sozialwissenschaftliche Untersuchungen normativer Praxis schuldig machen. Auf dem Bildschirm der Soziologie tauchen Normen als gesellschaftlich vermittelte "Erwartungen" auf, die menschliches Verhalten steuern. So werden Normen zu Handlungs- und Kommunikationsregeln, denen die Akteure auf den verschiedenen Feldern ihrer Interaktionen folgen müssen. Die Gesellschaftsbeobachtung nimmt Normen mithin als Kausalfaktoren in Anspruch, um die Integration ganzer Gesellschaften, die Existenz bestimmter Institutionen, die Logik politischer Systeme oder das Handlungsrepertoire einer sozialen Rolle zu erklären.

Demgegenüber konzentriert sich die praktische Philosophie auf das moralische Sollen. Für sie werden Normen nicht als "Ursachen", sondern als "Gründe" von Handlungen zum Thema. Weil Menschen zur Überlegung fähig sind, können sie ihr Handeln aus vernünftiger Einsicht bestimmen. Würden sich möglichst viele an derartige Einsichten halten, wäre Kooperation weniger konfliktbehaftet. Außerdem könnte man sich bei Streitfällen auf die im Lichte der Vernunft besseren Gründe einigen.

Zwar wird in diesem Bild der normativen Praxis der gewichtige Unterschied zwischen einer handlungsmotivierenden Norm und einer handlungsdeterminierenden Ursache anerkannt. Doch handelt sich die Philosophie mit ihrer Wertschätzung der Autonomie sozialer Akteure ein "normativistisches" Verständnis von deren Tun und Treiben ein. Sie fertigt Beschreibungen normativer Verhältnisse an, deren prospektive Rationalität unterstellt und für gut geheißen wird. Unter dieser Perspektive kann normative Unordnung oder die Verletzung normativer Standards eigentlich nur aus einem Mangel an Vernünftigkeit hervorgehen. Entweder ist der individuelle Geist zu schwach oder eine Weltvernunft in universaler Geltung, deren umfassende Verwirklichung historisch leider noch aussteht. Logisch, dass die Mächte der Unvernunft dann vor den Richterstuhl der Rationalität zu zitieren sind.

Möllers will den Philosophen wie den Soziologen in die Suppe spucken. Sein Buch streitet für ein "nicht-normativistisches Verständnis" von Normen. Bezweifelt wird, dass Vernunftmoral zum Inbegriff sozialer Normativität taugt. Damit ist der Stellenwert des "Raums der Gründe" keineswegs abgewertet, sondern lediglich für gute Nachbarschaft gesorgt. Dass das Fressen vor der Moral kommt, würde Möllers nie behaupten. Allerdings mit sanftem Nachdruck in Erinnerung rufen, dass es neben der Moral einer Gemeinschaft auch noch die Vielfalt ihrer Tischsitten gibt. Ihm zufolge sollte man weder im Alltagsleben noch im akademischen Seminar davon ausgehen, die Vernunft liefere den Maßstab für jede normative Wirklichkeit. Man sollte aber auch nicht glauben, soziale Normen in ihrem gesamten Leistungsspektrum erfasst zu haben, wenn sie als Ursachen der Bestandssicherung sozialer Systeme definiert sind. Aus beiden Einwänden zieht Möllers die entscheidende Konsequenz: Die Praxis, über die uns eine Wirklichkeitswissenschaft der Normativität Auskunft gibt, verortet der Untertitel seines Buches "jenseits von Moralität und Kausalität".

Rechtsphilosophie: Ein Porträt des Journalisten und Impresarios Gabriel Astruc aus dem August 1917.

Ein Porträt des Journalisten und Impresarios Gabriel Astruc aus dem August 1917.

(Foto: Gabriel Astruc 1917, Collection Myriam Sanfuentès)

Dem Umstand, dass sich das Areal normativer Praktiken weder durch Philosophien des vernünftigen Sollens noch durch Sozialtheorien des erwartbaren Müssens angemessen ausleuchten lässt, trägt Möllers mit seinem eigenen Definitionsvorschlag Rechnung. Die Normativität eines Standards, einer Regel, einer Konvention, einer Wertung besteht für ihn darin, dass jeweils "positiv markierte Möglichkeiten" angezeigt werden; wobei "positiv markiert" bedeutet, dass die aufgerufene Möglichkeit zugleich mitkommuniziert, sie sei realisierbar. Wer mit Fingern isst, könnte auch zu Messer und Gabel greifen, wer flunkert, auch die Wahrheit sagen. Möglichkeiten, deren etwaige Verwirklichung auszuschließen ist, wird alle normative Kraft abgesprochen.

Sofort leuchtet ein, dass etwas, das unmöglich ist, kein Gegenstand normativer Gebote sein kann. Sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben, lässt sich sinnvollerweise nicht von einem menschlichen Lebewesen fordern. Aber wie ist im unüberschaubaren Reich der Possibilitäten trennscharf zwischen jenen Möglichkeiten zu unterscheiden, die sich "positiv markieren" lassen und denen, die dazu ungeeignet sind? Und dieser Frage folgt die noch grundsätzlichere auf dem Fuß, in welchem Sinne realisierbare Möglichkeiten eigentlich zum Mobiliar der sozialen Welt gehören. Hier würde eine Leserin, die über Möllers Definition ins Grübeln gerät, gerne mehr erfahren.

Ein Vorzug der Definition ist, dass sie ein altes, vertracktes Problem besser in den Griff bekommt. Von der sogenannten Ohnmacht des Sollens ist die Rede. Im Alltag wie im Nachdenken nehmen wir Anstoß daran, dass Normen, die als verbindlich gelten, dennoch ständig verletzt werden. Begreift man Normen mit Möllers als "positiv markierte Möglichkeiten", verschwindet das Phänomen nicht, doch lässt es sich anders gewichten. Der Akzent bei normativen Praktiken liegt nun nicht mehr auf der Erzwingung eines gewünschten Verhaltens, sondern darauf, die unterschiedlichen Gegenwarten menschlicher Praxis mit "Möglichkeitssinn" auszustatten. Möllers arbeitet schlüssig heraus, dass Normen unser Handeln, Kommunizieren, Werten, Wahrnehmen und Erleben erweitern, nämlich mit Optionen versehen.

Die Pointe ist so plausibel wie eindeutig: Weit davon entfernt, in Normen primär repressive Maßnahmen zur Zivilisierung auszumachen, unterstreicht er ihre befreiende Kreativität. Sie erschließen Spielräume, brechen den Absolutismus der Wirklichkeit. Normen vollbringen "in der Wirklichkeit" das paradoxe Kunststück, diese Wirklichkeit "auf Distanz zu bringen". Insofern verschaffen sie uns als soziokulturelle Arrangements Luft zum Atmen.

Mit dieser Deutung entfaltet Möllers ein geradezu urliberales Motiv jener Anthropologie, die Hans Blumenberg vertreten hat. Für den Vorgang der Menschwerdung wie die anhaltende Notwendigkeit von Selbsterhaltung, so der Münsteraner Philosoph, sind unter Bedingungen, die eine notorisch überraschungsreiche, schwer berechenbare Realität aufnötigt, Distanznahmen unverzichtbar. Bevor es Wege gibt, also Ziele gesteckt und verfolgt werden können, müssen sich - überspitzt formuliert - Umwege angeboten haben. Der Einsicht Blumenbergs erweist Möllers seine Referenz, indem er mit schlagenden Argumenten dafür wirbt, soziale Normen letztlich aus ihrem Potenzial zu verstehen, die Immanenz gegebener gesellschaftlicher Zustände aufzusprengen.

Christoph Möllers: Die Möglichkeit der Normen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 461 Seiten, 34,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.

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