Reaktionen auf Günter Grass' SS-Beichte:"Das Beste wäre, wenn er von selbst darauf verzichten würde"

Erlösung, Demontage oder PR? Polens Ex-Präsident, der Friedensnobelpreisträger Lech Walesa, denkt laut darüber nach, Grass die Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig abzuerkennen. Ganz ähnlich diskutiert man im tschechischen PEN-Club über eine Aberkennung des Karel-Capek-Preises. "Wir werden das besprechen", meinte dortige PEN-Vorsitzende.

¸¸Auch Du, GG . . . ? Auch Du ein Wahrheitströpfler!" Mit sarkastischer Rhetorik beginnt der Historiker Michael Wolffsohn seinen Beitrag zu Günter Grass in der Netzeitung vom Samstag. Erstaunen und Bedenken prägen viele Reaktionen auf die Nachricht, der Schriftsteller Günter Grass sei in seiner Jugend Mitglied der Waffen-SS gewesen, aber auch Verständnis für den Autor, und viele Beobachter versichern, dass sein Wert als politisch-moralische Instanz Deutschlands nicht beschädigt sei. Walter Kempowski bringt es dem Berliner Tagesspiegel gegenüber auf den (biblischen) Punkt: ¸¸Wer selbst ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Und der Schriftsteller Dieter Wellersdorf erklärt: ¸¸Man lebt in der Welt, in die man hineingeboren wird." Martin Walser stellt sich mit starker Ironie Grass zur Seite: ¸¸Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch. Günter Grass hat durch die souveräne Platzierung seiner Mitteilung diesem aufpasserischen Moral-Klima eine Lektion erteilt. Dafür dürfen wir ihm dankbar sein."

Es ist vor allem die Generation, der Grass angehört, die für ihn um Verständnis wirbt. ¸¸Grass" Bekenntnis ist abgewogen, präzise und vernünftig", schreibt mit gewohnter Präzision Walter Jens: ¸¸Ein Meister der Feder hält Einkehr und überlegt sich: Was hast du im langen Leben zu berichten vergessen? Das hat er getan und er verdient meinen Respekt. Es ist für mich bezeichnend, dass Grass gerade den richtigen Zeitpunkt gewählt hat. Vorher wäre manches besserwisserisch erschienen." Ähnlich Ralph Giordano: ¸¸Ich habe Leute gekannt, die erst mit 80 oder 85 Jahren bekannt haben, was sie falsch gemacht haben . . . Für mich verliert er durch diese Öffnung nicht an moralischer Glaubwürdigkeit - in keiner Weise . . . Er hat sich selbst erlöst jetzt, indem er die Wahrheit gesagt hat und man könnte sagen, endlich gesagt hat, aber er hat sie gesagt."

Mit dieser Einschätzung stehen Jens und Giordano freilich allein da. Für die meisten bleibt gerade das lange Schweigen des Günter Grass befremdlich, kritikwürdig. ¸¸Die Selbstüberwindung von Grass verdient großen Respekt", schreibt der Historiker Arnulf Baring: ¸¸Aber man fragt sich doch beklommen, warum er sich nicht früher zur Wahrheit aufgerafft hat. Grass hat immer betont, wie unvollkommen die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland sei. Er muss sich dabei halb bewusst immer selbst im Auge gehabt haben."

Michael Wolffsohn, aus der Generation nach Grass, weiß auch, was ein richtiger Zeitpunkt gewesen wäre: ¸¸Im April 1985 hatte er eine goldene Gelegenheit. Damals diskutierten Deutschland und die Welt heftig über den Bitburg-Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident Ronald Reagan: Sollten sie gemeinsam auf den dortigen Friedhof gehen, wo auch Soldaten der Waffen-SS lagen? Sie gingen . . . Damals, im April 1985, hätte GG aufstehen und erklären sollen: Auch ich war dabei." Aber auch Wolffsohn hat kein Verdikt: ¸¸Durch sein beharrliches Schweigen wird GGs moralisierendes, nicht sein fabulierendes Lebenswerk entwertet."

Unerbittlich ist dagegen der Hitler-Biograf Joachim Fest: ¸¸Grass" Verhalten ist mir ein Rätsel", sagte er der Bild-Zeitung. Es sei unerklärlich, ¸¸wie sich jemand 60 Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation erheben kann, gerade in Nazi-Fragen - und dann erst bekennt, dass er selbst tief verstrickt war . . . Ich würde nicht mal mehr einen Gebrauchtwagen von diesem Mann kaufen." Hellmuth Karasek überlegte im NDR, ob Grass bei einem früheren Bekenntnis noch nobelpreiswürdig geworden wäre. Noch radikaler sieht Klaus Theweleit die Sache: ¸¸Es handelt sich um die Reklameaktion eines Publicity-Süchtigen, der ein neues Buch geschrieben hat . . .", sagte er dem Tagesspiegel.

Auch im Ausland gab es erste Reaktionen. Für die italienische La Repubblica ist das Eingeständnis ein ¸¸Schock", sie konzedierte Grass freilich, er habe sich mit ¸¸schmerzhaftem Mut" dafür entschieden, ¸¸jene Zweideutigkeit und Schuld seines Vaterlandes anzunehmen, die der Vergangenheit angehört, die aber unauslöschlich ist." Der Rat der Stadt Danzig (Gdansk) will erst einmal abwarten - formal besteht aber die Möglichkeit, Grass die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. ¸¸Das Beste wäre, wenn er von selbst darauf verzichten würde", sagte Polens Ex-Präsident, der Friedensnobelpreisträger Lech Walesa, in der Bild-Zeitung. Der tschechische PEN überlegt, ob er Grass den Karel-Capek-Preis aberkennen soll, den dieser 1994 erhielt. ¸¸Wir werden das besprechen", sagte der PEN-Vorsitzende Jiri Stransky im Fernsehen.

Keine Stellungnahme gab es von Marcel Reich-Ranicki, der sich vor Jahren eine heftige Debatte mit Grass geliefert hatte, als dessen Roman ¸¸Ein weites Feld" erschien. ¸¸Kein Wort" will er zur aktuellen Entwicklung sagen, erklärte er dpa - er sei ¸¸nicht verpflichtet" sich zu äußern. SZ/dpa

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