Raubkunst-Fund in München:Wie eine Routinekontrolle zum Nazi-Schatz führte

Appartmentblock München Cornelius Gurlitt Nazi-Raubkunst Fund

Gurlitts Wohnung in einem Münchner Apartmentblock. Was mit den Kunstwerken geschieht, ist noch unklar.

(Foto: Getty Images)

Was macht ein 80-jähriger Rentner mit mehr als tausend Kunstwerken? Wie kam er überhaupt an die Gemälde? Hat er noch mehr Raubkunst versteckt? Und was bedeutet die Entdeckung für die Kunstwelt? Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Sensationsfund in München.

Warum wurde der Fall bekannt?

Es begann mit einer Routinekontrolle. Ein Septemberabend im Jahr 2010. Ein älterer Mann sitzt im Schnellzug EC 19 von Zürich nach München. Zollfahnder sind auch mit im Zug. Sie wollen von dem Mann wissen, ob er Bargeld anzumelden habe. Nein, antwortet der Herr mit den grauen Haaren - und er lügt nicht. Doch er wirkt nervös, die Beamten stellen weitere Fragen, schließlich holt er 9000 Euro heraus, 18 druckfrische 500-Euro-Scheine, wie Recherchen des Magazins Focus ergeben haben. 10.000 Euro sind ohne Anmeldung erlaubt.

Trotzdem bleibt der Verdacht eines Steuervergehens bestehen, die Beamten recherchieren in den folgenden Wochen im Umfeld des Mannes weiter und stoßen auf immer mehr Ungereimtheiten. Laut Focus führte der Mann im Zug einen österreichischen Ausweis mit: Rolf Nikolaus Cornelius Gurlitt, geboren am 28. Dezember 1933 in Hamburg, wohnhaft in Salzburg. Doch die Beamten ermitteln, dass Gurlitt in München lebt. Er ist den deutschen Behörden allerdings vollkommen unbekannt, in München nicht gemeldet, besitzt keine Steuernummer, zahlt keine Krankenkassenbeiträge, bekommt keine Rente.

Wenige Monate nach der Kontrolle im Zug, im Frühjahr 2011, durchsuchen Zollfahnder dann die Wohnung Gurlitts in einem Apartmentkomplex im Münchner Stadtteil Schwabing. Und finden einen Schatz: In der Wohnung befinden sich 1500 bisher verschollene Gemälde von Meistern der klassischen Moderne. Sie werden beschlagnahmt. In einer mehrtägigen Aktion transportieren die Fahnder die Bilder ab.

Warum erfährt die Öffentlichkeit erst mehr als zwei Jahre später von dem Sensationsfund?

Die bayerischen Behörden halten die Aktion geheim, sie wissen, dass der Fall juristisch äußerst heikel ist. Aufgrund der Brisanz des Fundes dringt lange nichts an die Öffentlichkeit, Zoll, Steuerfahndung, auch die zuständigen Ministerien halten dicht. Auch die Bundesregierung wusste Bescheid: "Die Bundesregierung ist seit mehreren Monaten über den Fall unterrichtet", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin.

Und wer hat jetzt geredet? Über die undichte Stelle ist bislang nichts bekannt. Die zuständige Staatsanwaltschaft Augsburg erklärte bislang nur, dass bei ihr ein Steuerverfahren laufe und aufgrund des Persönlichkeitsschutzes keine weiteren Auskünfte erteilt würden.

Um welche Bilder handelt es sich? Wo liegen die Gemälde aktuell?

Insgesamt wurden in der Schwabinger Wohnung 1500 Kunstwerke sichergestellt - darunter sind nicht nur Gemälde, sondern auch Drucke, Radierungen und Stiche im Wert von geschätzt einer Milliarde Euro. Sie liegen in einem Zolllager in Garching bei München verwahrt.

Die Werke stammen von bedeutenden Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse, Marc Chagall, Emil Nolde, Franz Marc, Paul Klee, Edvard Munch, Max Beckmann und Max Liebermann. Außerdem befinden sich Arbeiten von Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner und ein verschollener Dürer darunter.

Wie ging das NS-Regime mit Kunst um?

Viele Objekte sollen dem Focus-Bericht zufolge in die Kategorie "entartete Kunst" fallen. Das bezeichnet Kunstwerke, die den Nazis unliebsam waren. 1937 ließen die Nazis solche Arbeiten ohne Entschädigung aus deutschen Museen beschlagnahmen. Besonders betraf die Konfiszierung Werke der Künstlervereinigungen "Brücke" und "Blauer Reiter", in denen unter anderen Emil Nolde, Wassily Kandinsky, Franz Marc und Oskar Kokoschka waren. Anschließend sollten in diversen Ausstellungen den Bürgern "Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtskönnertums und der Entartung" vor Augen geführt werden, wie Adolf Ziegler, Maler und Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, bei der Eröffnung der Ausstellung "Entartete Kunst" in München sagte.

Von 1938 an durfte mit entarteter Kunst wieder offiziell gehandelt werden, ein entsprechendes Gesetz sah dies vor. Und NS-Größen wie Hermann Göring nutzten dies für sich und sicherten sich einige Kunstwerke vorweg. Zum offiziellen Weiterverkauf beauftragten die Nazis vier Kunsthändler, sogenannte "Verwerter", denen sie umfangreiche fachliche Kenntnisse und ausreichende internationalen Kontakte attestierten. Und für die setzten sie auch ansonsten diskriminierende Maßnahmen gegen Nichtarier außer Kraft. Sie sollten die Werke im Ausland gewinnbringend verkaufen. Ungefähr die Hälfte aller beschlagnahmten Werke wurde von Kunsthändlern zur Weitervermittlung übernommen.

Wie ist der 80-jährige Cornelius Gurlitt in den Besitz der Bilder gelangt?

Eine der vier Kunsthändler war der Dresdner Kunsthistoriker Hildebrand Gurlitt, Vater von Cornelius Gurlitt. Die anderen drei waren der Bildhauer und Kunsthändler Bernhard A. Böhmer, Karl Buchholz, der in New York die Buchholz Gallery Curt Valentin gründete, und Ferdinand Möller, ebenfalls Kunsthändler. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels beauftragte Gurlitt, Enkel einer jüdischen Großmutter, vor allem deshalb, weil er über gute internationale Kontakte verfügte, durch die er Kunstwerke unauffällig gegen Devisen ins Ausland verkaufen konnte. Gurlitt bekam direkten Zugang zu Depots, in denen die Nazis ungefähr 20.000 konfiszierte Kunstwerke aufbewahrten. Der Kunsthändler profitierte vom Verkauf, genau wie sein Vetter Wolfgang Gurlitt, denn die Verkäufer erhielten Provisionen zwischen zehn und zwanzig Prozent. Auch von diesem Geld kaufte Hildebrand Gurlitt offenbar selbst in den 30er und 40er Jahren viele Werke auf.

Nach dem Krieg behauptete er dann, die Bilder, die er im Lager hatte, seien bei der Bombardierung Dresdens verbrannt. Das war offenbar falsch. Auf welchem Weg die 1500 beschlagnahmten Bilder genau in den Besitz seines Sohns gelangten, ist noch unklar. Allerdings wurden auch die Geschäftsunterlagen von Hildebrand Gurlitt in der Schwabinger Wohnung sichergestellt. Forscher hoffen mit Hilfe dieser Unterlagen den genauen Weg der Werke bis in die Gegenwart hinein nachvollziehen zu können.

Was hat Gurlitt mit den Bildern in den vergangenen Jahren gemacht?

Seit mehr als 50 Jahren hortete Gurlitt die Meisterwerke in seinem Schwabinger Apartment - offenbar in einem verdunkelten, vermüllten Zimmer. Die Drucke, Radierungen, Stiche und Gemälde befanden sich zwischen Bergen von vergammelten Lebensmitteln und jahrzehntealten Konservendosen in selbstgeschreinerten Regalen. Die Fenster zum Apartment waren verrammelt. Immer wieder hat Gurlitt offenbar einzelne Bilder verkauft. Vom Erlös scheint er gelebt zu haben. Leere Rahmen und diverse Dokumente belegten dies. Offenbar ging es auch bei seinem Besuch in der Schweiz um Bilderverkauf, bei dem er den Zollfahndern aufgefallen war. Als die Kunstwerke abtransportiert wurden, hat Gurlitt keinen Widerstand geleistet. Er soll nur gesagt haben, dass die Fahnder sich die Mühe hätten sparen können, er würde ohnehin bald sterben.

Wem gehörten und gehören die Bilder?

Eines der in Gurlitts Wohnung beschlagnahmten Matisse-Gemälde konnte bereits verortet werden: Es soll dem jüdischen Kunstsammler Paul Rosenberg gehört haben, dem Großvater der französischen Journalistin Anne Sinclair, die seit Jahren um die Rückgabe der von den Nazis gestohlenen Gemälde kämpft und dem Focus zufolge bislang nichts von dem Matisse-Bild wusste.

Vermutet wird, dass ungefähr 300 der Werke in Museen ausgestellt waren und als "entartete Kunst" enteignet wurden. 200 gehörten möglicherweise Sammlern, oft von den Nazis verfolgte Juden, und stehen auf Listen über "verlorene" Kunst. Auf diese dürften nun Nachkommen jüdischer Sammler oder Kunsthändler Ansprüche erheben.

Fraglich ist, ob bei der Beschlagnahme alle Kunstwerke entdeckt wurden. Im Spätsommer 2011, einige Monate nach der Durchsuchung, hatte Gurlitt, das Gemälde "Löwenbändiger" von Max Beckmann zur Auktion abgegeben. Misstrauisch sei man nicht geworden. "Das wirkte, als habe Herr Gurlitt als alter Mann sein Kronjuwel geholt, um für die letzten Jahre noch flüssiges Kapital zu haben", sagte der Justiziar des Auktionshauses Karl-Sax Feddersen. Vor der Versteigerung fanden die Experten heraus, dass der "Löwenbändiger" aus dem Nachlass des Kunstsammlers Alfred Flechtheim stammte. Nach einer Einigung mit den Erben des legendären jüdischen Galeristen sei das Bild daraufhin für 864.000 Euro mit Aufschlag versteigert worden.

Wie mit NS-Raubgut zu verfahren ist, hat auch rechtliche Grundlagen: Im Washingtoner Abkommen verpflichteten sich 44 Staaten, darunter Deutschland, von den Nazis konfisziertes Kulturgut zu suchen und den rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. Allerdings bindet diese Erklärung nur öffentliche Museen, keine Privatpersonen. Ein Jahr später erklärten sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände gemeinsam bereit, dass Auffindung und Rückgabe "NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz" weiterhin Aufgabe öffentlicher Einrichtungen sei. Allerdings ist es in vielen Fällen schwierig, die Besitzrechte eindeutig nachweisen zu können.

Was bedeutet der Fund für die Kunstwelt?

In dem Fund könnten viele Kunstwerke sein, die die Forschungsstelle "Entartete Kunst" an der Freien Universität Berlin zu identifizieren versucht - für die Wissenschaftler wäre es ein großer Schritt. Die dortige Projektkoordinatorin Meike Hoffmann recherchiert seit mehr als einem Jahr die Herkunft der in Schwabing gefundenen Bilder. Allerdings hat sie noch keine Auskunft über vorläufige Ergebnisse gegeben.

Auf den Kunsthandel könnte der Fall Gurlitt allerdings ein schwarzes Licht werfen: Stellt die Hortung der Kunstwerke und deren Weiterverkauf doch einen respektvollen und verantwortungsvollen Umgang der Kunstwelt mit derlei Werken in Frage. Auch wenn der Kunstdiebstahl durch die Nazis zwischen 1933 und 1945 inzwischen als verjährt gilt.

Wie geht es weiter?

Falls es nicht eindeutig zu klären ist, wer der rechtmäßige Eigentümer der Bilder ist, könnte es sein, dass die Werke weiterhin Cornelius Gurlitt gehören. Grundsätzlich muss nicht er beweisen, wie er in ihren Besitz gekommen ist. Vielmehr müssen diejenigen, die Ansprüche anmelden, diese auch belegen - ein Unterfangen, das heute oft unmöglich ist.

Gegen Cornelius Gurlitt wird aktuell nur wegen Steuerhinterziehung ermittelt. Ob er noch in München wohnt, ist unklar. Die Nachbarn haben ihn schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen. Darüber hinaus ist in dem Haus in Schwabing nichts zu erfahren. "Wir wissen nichts", "Kennen wir nicht", sagen einige der Bewohner auf Nachfrage. Nur eine Nachbarin erinnert sich an den Polizeieinsatz im Jahr 2011, gedacht habe sie sich dabei aber nichts.

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