Rasanter Theaterabend:Wer bin ich, wer ist sie?

Anna Drexlers fulminantes Solo "Erschlagt die Armen" im Marstall

Von Egbert Tholl

Da sind die Stimmen, die sich in ihrem Kopf angesammelt haben. Sie kommen aus den Kopfhörern über ihr. Eine flache Wolke aus Kopfhörern. Es sind so viele, dass jeder der Zuschauer sich einen aufsetzen könnte. Aber sie hängen an einem Gitter über der Bühne und zirpen wie Zikaden. Später, viel später, wird sie ihre eigene Stimme aus den Kopfhörern da oben hören, wie ein Echo des von ihr Gesagten. Erst einmal jedoch sind die Stimmen ein Geräusch, ein Flirren, das sich mal mit einem Sinuston vermengt, mit mehreren Tönen, die in Sedimentschichten übereinander schweben. Auf die leichte Schräge der Bühne werden Worte von Rimbaud projiziert. "Welchem Dämon soll ich mich verkaufen? In wessen Blut waten? Welche Herzen brechen?" Dann fängt die Frau an zu sprechen. Es ist Anna Drexler.

Ihr Abend im Marstall ist eine Manifestation der temporären Zugehörigkeit zum Ensemble des Residenztheaters, und doch ist sie allein. Drexler ist die Frau aus dem Roman "Erschlagt die Armen!" von Shumona Sinha. Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren, studierte an der Pariser Sorbonne Literaturwissenschaft und arbeitete als Dolmetscherin für Asylsuchende, Flüchtlinge, aus ihrer Heimat, aus Indien oder Bangladesch in Frankreich Gestrandete. In "Erschlagt die Armen!" schrieb sie auf, was sie während ihrer Übesetzer-Tätigkeit erlebt hatte. Danach war sie ihren Job bei der Asylbehörde los.

Den Titel und die Tat, die am Anfang des Romans steht, borgte sich Sinha bei Charles Baudelaire, was bei ihr zu Folgendem führt: In einem Pariser Gefängnis sitzt eine Frau in Untersuchungshaft, weil sie in der Metro einem Migranten eine Weinflasche auf den Kopf gehauen hat. Nun soll sie erklären, wie es zu der Tat kam. Das tut sie auch, vor allem aber erklärt sie es sich selbst und damit wiederum dem Zuschauer. Regisseur Zino Wey und die Dramaturgin Andrea Koschwitz haben dafür eine ungemein dichte, mäandernde Fassung erstellt, einen Monolog der Selbsterkundung und Selbstbehauptung, der durchaus dem Kunstwillen seiner Autorin Rechnung trägt und ein bisschen mehr Luft für den Zuhörer vertragen könnte.

Die Frau befindet sich zwischen den Welten. Drexler spricht sie direkt an, spricht aber von ihr auch in der dritten Person wie über einen Menschen, von dem es etwas zu berichten gibt. Jedes Wort ist ihr wichtig, jedes Wort wird zu einem exakt behauenen Stein. Aus diesen Steinen baut sie eine Welt, aber die Steine passen nicht zusammen. Da ist die Empathie, die sie für die Flüchtlinge empfindet, deren Schicksal ihr ja selbst vertraut ist. Da ist aber auch die Entrüstung über die Lügengeschichten, die eine findige Anwältin mit den Asylsuchenden trainiert hat. Die Frau durchschaut die Geschichten, aber soll sie die Wahrheit sagen? Da sind die Männer, die es kaum ertragen, den Fragen einer Frau antworten zu müssen. Da ist die Behörde, die nicht funktioniert und doch hilft, da sind die schrecklichen Erlebnisse, die sie sich jeden Tag anhören muss und die ihr den Schlaf rauben.

Manches stellt Drexler als Dialog mit sich selbst dar, die eigene Befragung, Berichte von Gesprächen, die sie übersetzte. Ihr Körper erzwingt die Spannung, in der man sich den Worten nicht entziehen kann. Drexler will die Frau gar nicht sympathisch machen, sie ist voller Entrüstung, Wut und Trauer, mal eine echte Bürokraft, dann wieder einfach ein Mensch, selbst gestrandet. Am Ende liest man wieder Schrift auf dem Boden, wieder Rimbaud: "Ich passe mich an ... Werde ein französisches Leben führen." Und das alte und einen Teil von mir selbst verlieren, könnte man hinzufügen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: