Rainald Goetz:Spät und doch sensationell

Verleihung Schiller-Gedächtnis-Preis 2013

Rainald Goetz ist wichtigster Impulsgeber deutschsprachiger Literatur - und völlig verdienter Büchner-Preisträger.

(Foto: dpa)

Je länger die Jury des Büchner-Preises an Rainald Goetz vorbeiging, desto unglaubwürdiger machte sie sich. Insofern ist seine Wahl Glücksfall und Befreiungsschlag zugleich.

Von Christopher Schmidt

Der Georg-Büchner-Preis ist die wichtigste Auszeichnung für ein literarisches Lebenswerk im deutschen Sprachraum, der deutsche Nobelpreis, wenn man so will. Verliehen wird er alljährlich von der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt - und zwar meist an sich selbst. In den letzten Jahren zumindest ging der Preis, der mit 50 000 Euro dotiert ist, stets an die eigenen Mitglieder der Akademie.

Die Berufung in diese Akademie schien eine Art Vorstufe des Preises zu sein, und die Aufnahme in die erlauchte Zirkelgesellschaft mag daher bei dem einen oder anderen Dichter eine gewisse Erwartungshaltung befördern. Inzestuös aber wirkten die jüngsten Entscheidungen so oder so, und allzu große Begeisterung weckten sie nicht. Das Wahlergebnis war, vorsichtig gesagt, entweder apart oder gestrig, oft beides. Entsprechend verhalten fiel das Echo aus, Lobgesänge wurden da bestenfalls mit belegter Zunge angestimmt.

Zu vielen Has-Beens wurde der Preis im Nachgang zugesprochen, Autoren, bei denen man den richtigen Zeitpunkt schlicht verpasst hatte. Trotz aller Rückwärtsgewandtheit gibt es andere, die den Preis nie erhalten haben, obwohl sie ihn verdient gehabt hätten. Siegfried Lenz etwa oder Walter Kempowski scheiterten an der Darmstädter Unsterblichkeits-Bürokratie. Sie starben, ohne ins Pantheon umgebettet zu werden. Bei anderen wie W. G. Sebald oder Wolfgang Herrndorf kam ein tragischer früher Tod der Ehrung zuvor.

Das letzte Mal, dass die Akademie auf die literarische Gegenwart nicht mit der Reaktionsgeschwindigkeit eines abschmelzenden Gletschers einging, war 1963, als dem damals 34-jährigen Hans Magnus Enzensberger der Büchner-Preis zugesprochen wurde, und dann noch einmal zehn Jahre später. Da erhielt Peter Handke die Auszeichnung; er war seinerzeit 29 Jahre alt. Mag sein, dass man diese beiden Unruhestifter früh eingemeinden und kanonisieren wollte, um sie besser unter Kontrolle zu bringen. Geklappt hat das bekanntlich nicht, aber das Wort Kontrolle ist eine ideale Überleitung zum diesjährigen Preisträger, in dessen Werk es ein Schlüsselbegriff ist: Rainald Goetz.

Hellwacher Gegenwartschronist

Obwohl auch diese Entscheidung den Schönheitsfehler der allzu späten Ehre hat, ist sie eine Sensation. Je länger die Akademie an dem mittlerweile 61-jährigen Goetz, dem wichtigsten Impulsgeber und interessantesten Kopf der deutschsprachigen Literatur, vorbeiging, desto unglaubwürdiger machte sie sich. Mit jedem Jahr, das sie verstreichen ließ, arbeitete sie an ihrer eigenen Marginalisierung. Dass es jetzt endlich geklappt hat, muss man nicht nur als Glücksfall feiern, sondern auch als Befreiungsschlag, der beweist, dass wider Erwarten doch noch Leben ist in Deutschlands einziger nationaler Akademie.

Bezugsgrößen im historischen Preisträger-Tableau - und in der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik überhaupt - sind ebenjener Hans Magnus Enzensberger sowie Alexander Kluge. Wie diese beiden verkörpert der 1954 in München geborene Rainald Goetz den Typus des nervösen Gegenwartschronisten mit theoretischem Überbau, dessen Intelligenz zu ungeduldig ist, um Romane zu schreiben, obwohl er es zweimal getan hat, jedoch im Abstand von dreißig Jahren. Wie Enzensberger machte Goetz zunächst als Journalist auf sich aufmerksam. Noch als Student der Alten Geschichte und Medizin, der beiden Fächer, in denen er promoviert wurde, schrieb er Artikel, die ersten für die Süddeutsche Zeitung, später für Zeitschriften wie Kursbuch, Konkret, Transatlantik, Merkur und den Spiegel - und dem Journalismus, nicht als Beruf, sondern als Haltung, ist er bis heute treu geblieben.

Einer, der die Beobachter beobachtet

Der an Niklas Luhmanns Systemtheorie geschulte, manische Zeitungsleser Goetz wurde zum Beobachter zweiter Ordnung, zu einem, der die Beobachter beobachtet, den "politisch-journalistischen Komplex". Als einer der Ersten machte er die mediale Verfasstheit der Wirklichkeit zum Ausgangspunkt ästhetischer Überlegungen. Worum es ihm ging, waren nicht schöne Sätze, sondern wahre. Schreiben als Herrschaftsanalyse. "Jede Idee, die sich nicht am Sozialen bricht und dabei verwirren, zerstören oder beglaubigen lässt, gibt es gar nicht", lautet sein Credo.

Er war immer da, wo die Gegenwart am hellsten glühte

Von Anfang an war Rainald Goetz kein Autor anekdotischen oder gar privatistischen Erzählens. Literatur ist für ihn Resonanzraum der Öffentlichkeit, die Verbindung von wütender Expressivität und scharfer Polemik mit kühler Vivisektion. Das "Tanzlokal Größenwahn" und das "Substanz" bildeten in den frühen Münchner Jahren das subkulturelle Umfeld seiner Sozialisierung. Der Punk und die jungen Wilden der Malerei inspirierten ihn. Goetz' erster Roman "Irre" über den Klinikalltag seines Alter Egos Raspe in der Psychiatrie war 1983 ein Fanal nach bleierner Zeit. Hier artikulierte sich ein neues Lebensgefühl gegen den hypertrophen Artrock der damaligen Innerlichkeitsprosa. "Pop-Literatur" gab es noch nicht, die Szene saß beim Selbstfindungsgespräch unter der Yucca-Palme, die Achtziger suchten erst ihre literarische Stimme.

Gestischer Ausdruck des Aufbruchs seiner Generation wurde der legendäre Auftritt beim Bachmann-Preis in Klagenfurt, wo Rainald Goetz sich die Stirn mit einer Rasierklinge aufschlitzte und seine Weltwut in einen einzigen atemlosen Stakkato-Feuerstoß verwandelte, einen Literatur-Pogo. Bemerkenswerterweise war der so oft gescholtene Marcel Reich-Ranicki der erste in der Runde, der die Unbedingtheit dieses Talents erkannte. Und als 1986 die Theater-Trilogie "Krieg" auf die Bühne kam, pilgerte man zu der zwölfstündigen Aufführung. Über diese Zeit schrieb Goetz später: "Damals war ich Tasso, noch davor Robespierre, gegen Büchner, gegen Goethe, immer Prinz von Homburg, gegen Kleist: der blinden Tat geweiht, dem Wahn, der Sprache, dem Sieg, egal wie krank erkämpft."

Man sah Rainald Goetz oft, wie er in den Bücherkisten der Schwabinger Antiquariate kramte, der drahtige Goetz mit dem Flackerblick und der Flecktarn-Jacke, stets hypermotorisch und vibrierend vor Energie. 1988 erschien sein Romanessay "Kontrolliert" über die RAF. Er schrieb eine weitere Theater-Trilogie mit dem Titel "Festung" (1993) und später das Stück "Jeff Koons" (2002) über den Kunstbetrieb. Da war er dann schon in Berlin, tauchte ein in die Techno-Szene, Raves und DJ-Kultur waren jetzt sein Thema.

Goetz wurde zum Blogger der ersten Stunde, begriff Literatur als Mitschrift der Gegenwart. Das Internet-Tagebuch "Abfall für alle" (1999) entstand, der Blog "Klage" auf der Internet-Seite von Vanity Fair. Er bildete den Anfang des Projekts "Schlucht", einer Sichtung der Nullerjahre, das mit "loslabern", dem Fotoband "elfter september 2010" fortgesetzt wurde und schließlich 2012 zu seinem jüngsten Roman "Johann Holtrop" führte, der großen Parabel über die New Economy.

Argumente waren immer schon das wichtigste Material dieses denkenden Dichters

Rainald Goetz war immer da, wo die Gegenwart am hellsten glühte. Ob im Nachtleben oder im Bundestag - überall stenografierte er mit, verfertigte Augenblicksprotokolle. Er ging ein in die rauschhafte Techno-Blase, und als das Feuilleton anfing, den Wirtschaftsteil zu lesen, arbeitete er an einem Enthüllungsroman über Aufstieg und Fall eines Medien-Tycoons. Immer hellwach, die Sinne scharf wie das Objektiv einer Kamera. Und er fand seine eigenen Formen für die beschleunigte Gegenwart, Polaroid-Literatur eines schreibenden Gestaltwandlers im Hochfrequenz-Modus.

Wie Georg Büchner, der Arzt und Namensgeber des Preises, der ihm am 31. Oktober in Darmstadt überreicht wird, untersucht Rainald Goetz seine Zeit mit dem Skalpell. Der Idealort, heißt es in "Klage", wäre für ihn dort, wo der Text "die Literatur zu verlassen anfängt, ohne damit schon ganz fertig zu sein. Es ist wohl noch Literatur, aber eine fragliche."

Rainald Goetz, der Autor einer fraglichen und einer fragenden Literatur, einer Literatur, deren wichtigstes Material Argumente sind, erhält den Georg-Büchner-Preis 2015. Das ist eine gute, eine versöhnende Nachricht. Mit so einer Nachricht beginnt ein Freudentag.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: