Radikalisierung:Kampf oder Wahn

Der "Islamische Staat" rekrutiert psychisch labile junge Männer. Trotzdem wäre es falsch, alle Terroristen für krank zu erklären.

Von Sonja Zekri

Der Tee bei den Mördern war immer süß, die Bewirtung aufmerksam. Tarek und Abud al-Sumur hatten nichts verlernt in den 30 Jahren Gefängnis, jedenfalls dies nicht. Sie waren in den Achtzigerjahren verurteilt worden für die Beteiligung an der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat. Nun, im Frühjahr 2011, in jenen kurzen Monaten des Aufbruchs nach dem Sturz Hosni Mubaraks, waren sie freigelassen worden, schmiedeten Pläne, planten den Einzug in die Politik. Ihr Verhältnis zur Gewalt war nach Jahrzehnten im Kerker taktisch, vage. Der Mord an Sadat? Der Staat habe ihnen damals keinen anderen Ausweg gelassen. Und heute? Man werde sehen.

Die Sumurs sind Cousins und in Ägypten längst wieder weg vom Fenster, aber damals luden sie großzügig ein und ließen ihre geradezu klassischen Islamisten-Biografien vorbeiziehen, in denen das Gefängnis als Bildungsort eine zentrale Rolle spielte. Hinter Gittern waren sie auf andere militante Islamisten gestoßen, unter anderem den späteren Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri, in ihren Zellen hatten sie Vorlesungen gehört oder gehalten. Fast alle wurden gefoltert und radikalisierten sich, aber alle betrieben intensive Studien, lasen die islamistischen Vordenker. Militanter Islamist zu sein, das bedeutete damals noch einen ziemlichen ideologischen Aufwand. Terror-Organisationen waren exklusive Veranstaltungen mit einer harten Tür.

Dschihadismus ist ein niedrigschwelliges Angebot geworden

Die Achtziger und Neunziger galten einmal als Ära der Unruhe. Heute weiß man, und dies jetzt bitte nicht falsch verstehen: Es waren die guten alten Zeiten. Die vergangenen Wochen haben Europa, erstmals auch Deutschland, und hier genauer: Bayern, durch eine wohl präzedenzlos dichte Reihe von Anschlägen erschüttert. Und keiner der Täter, weder in Nizza noch in Würzburg, weder in Saint-Étienne-de-Rouvray noch Ansbach, hat offenbar eine vergleichbare Vorbereitung wie jene frühen Terroristen vorzuweisen. Mehrjähriges militärisches Training, lebenslanges Koranstudium, kleinschrittige Unterwanderung des Staates - alles nicht mehr nötig.

Viele Täter der vergangenen Wochen folgten stattdessen offenbar einer Art Instant-Radikalisierung. Ihre Taten reklamierte der "Islamische Staat" zügig für sich, so wie die im Irak inzwischen ziemlich bedrängten Terroristen ohnehin keine Gelegenheit auslassen, möglichst viele Mordtaten als Teil einer gewieften Taktik erscheinen zu lassen. Auch al-Qaida wurde mit den Jahren zum Franchise-Unternehmen, das nur noch lose Verbindungen zu Kopfabschneidern in Libyen oder Jemen oder Attentätern in Großbritannien hatte. Aber wann haben sie je psychisch Kranke vereinnahmt - wie den Syrer Mohammed D. in Ansbach?

Man muss dem IS seinen weltumspannenden Durchgriff nicht umstandslos glauben, wie es ohnehin lohnt, die grandiosen Selbstbezichtigungen von Terroristen auf ihre Plausibilität zu prüfen. Und doch ist unübersehbar, dass der islamistische Terror wie so oft in der Vergangenheit erneut seine Gestalt gewechselt hat, dass er heute eine Art Kettenreaktion einzelner Taten ist, die der "Islamische Staat" retrospektiv als strategische Leistung präsentiert.

Die Grenzen zwischen Amoklauf und Terror werden von Sicherheitsexperten argumentativ aufrechterhalten; sie sind für die Ursachenforschung zweifellos notwendig, aber operativ längst nicht mehr so klar auszumachen wie noch vor ein paar Jahren. Die Rolle des Islam bei den jüngsten Anschlägen hat in Frankreich zu einem erbitterten Streit unter den großen Islamismus-Experten geführt, Gilles Kepel und Olivier Roy. Der eine, Kepel, sieht die Ursachen für die Gewalt eben in der Religion, genauer: in ihrer intoleranten, rückwärtsgewandten, antiwestlichen Spielart, dem Salafismus. Roy hingegen sieht - und dies schon seit Jahren - den Terror vor allem als Rückzugsgefecht des Islamismus und weist auf die vielen Einflüsse hin, die junge Muslime in Europa in die Arme der Radikalen treiben - mangelnde Integration, Größenwahn, Gewaltfantasien - und die im Nachhinein durch das Bekenntnis zum Islam nobilitiert werden sollen. Der Streit ist umso schwerer begreiflich, als gerade die vergangenen Wochen Beispiele für beide Lesarten bieten. Terrorismus ist ein niedrigschwelliges Angebot geworden.

Am bemerkenswertesten aber ist, dass der IS offenbar keinerlei Scheu hat, ins Pathologische auszugreifen. Vor einem Jahr sprengte sich im Nordirak der Freiburger Yannik P. in die Luft, der sich Abu Muhammed al-Almani nannte. 15 Menschen starben. P. war obdachlos, entmündigt und geistig behindert. Das Bundeskriminalamt beobachtete bereits vor zwei Jahren, dass der IS versuchte, "psychisch auffällige Personen zu Selbstmordattentätern auszubilden". IS-Anhänger suchten Kontakt zu Kliniken, in einem Fall sprachen sie einen Konvertiten an, der unter paranoider Schizophrenie litt.

Dass sich in den Reihen der Terroristen Kleinkriminelle und Verkrachte finden, ist nichts Neues, ließ sich aber mit etwas Mühe - und einigen Bekenntnissen der Geläuterten - als Sieg über die Sünde präsentieren. Abu Musab al-Sarkawi war ein Trinker und Frauenheld, ehe er zu al-Qaida stieß und der schlimmste Schlächter im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins wurde; sein Neffe, sozial ähnlich auffällig, träumte einst von einer ähnlichen Karriere in Syrien. Etwas ganz anderes aber ist es, dem latenten Verdacht der Unzurechnungsfähigkeit Vorschub zu leisten.

Militante Gruppen - seien es islamistische Organisationen wie die Hamas oder die Hisbollah, aber auch Terroristen wie al-Qaida - legen größten Wert auf den Sinn, auf die Rationalität ihrer Motive, seien es politische, soziale oder doch nur religiöse. Nur so können sie dem verbreiteten Abwehrreflex begegnen, mit dem man Flugzeugentführer, Bombenleger, Selbstmordattentäter für "krank" oder "verrückt" erklärt. Beispielsweise der junge Hisbollah-Kämpfer an einem schwülen Abend in Beirut - ist der nicht ein Fall für den Arzt? Er nennt sich Hussein, ist still, ein bisschen schüchtern und gesteht am Ende des Interviews, dass er sich jeden Abend in den Schlaf weint, weil er schon wieder nicht im Kampf für seine Religion gestorben ist. Nein, er ist nicht krank. Seine Motive sind dem Westen fremd, seine Methoden entsetzlich, aber sein Denken und Fühlen folgt keinem Wahn, sondern einer in dieser Region ziemlich verbreiteten Ideologie.

Aber kann man dies über einen Menschen sagen, der Monate in psychiatrischer Behandlung war, der sich ritzte und zweimal umbringen wollte wie der IS-Attentäter Mohammed D. aus Ansbach? Wie ernst zu nehmen ist der Wunsch, Ungläubige zu töten, bei Menschen, die entmündigt wurden oder Stimmen hören? Strafrechtlich wirft die vom IS betriebene Pathologisierung komplexe Fragen auf, die Sicherheitslage dürfte noch unübersichtlicher werden, die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter noch schwieriger. Argumentativ macht es der IS dem Westen aber leichter: Sein Kampf wirkt so tatsächlich wie das Werk von Wahnsinnigen.

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