Raddatz über Kritik:"Der Spiegel" mit den dritten Zähnen

Fritz J. Raddatz über die Temperamentlosigkeit der Feuilletons, den "Spießer" Helmut Schmidt und warum der Papst als moralische Instanz versagt hat.

Willi Winkler

Fritz J. Raddatz kommt mit einem Strohhut in das Restaurant des Hamburger Hotels "Vier Jahreszeiten". Hinten sortiert das Personal Besteck, im Foyer setzt sich jemand an den Flügel, nach vorn zu den Fenstern, die auf die Binnenalster hinausgehen, sind alle Tische leer: eine Thomas-Mann-Szenerie. Raddatz holt Zigaretten heraus und bietet sie höflich an, ehe er sich selber eine ansteckt. Er zelebriert das Rauchen als aussterbende Kunst und wird gleich melancholisch: "Stellen Sie sich einen Marlene-Dietrich-Film ohne Zigarette vor! Wo immer sie die Treppe herunterkam, war die Zigarette dabei." Er raucht, um das Gespräch zu strukturieren. Erst neulich übrigens habe ihn sein Arzt dazu beglückwünscht, dass er offenbar nicht rauche!

Fritz J. Raddatz

Fritz J. Raddatz ist einer der einflussreichsten deutschen Literaturkritiker und war Feuilleton-Chef der "ZEIT".

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Raddatz, 1968 bei einer Demonstration auf der Hamburger Moorweide nach dem Mordversuch an Rudi Dutschke haben Sie gerufen: "Genug argumentiert, widerlegt, bloßgestellt. Was gebraucht wird, ist der Entwurf zu einer Gegenregierung." Ein Höhepunkt Ihres Lebens?

Fritz J. Raddatz: Nein, das war kein Höhepunkt, überhaupt nicht! Ich war damals auf der Seite der Studenten und natürlich gegen Vietnam, und ich habe mehrere solche Reden gehalten. Unverantwortlich vielleicht, zumindest leichtfertig.

SZ: Sie nennen es heute unverantwortlich, aber Sie waren da nicht allein. Im selben Jahr hat Hans Magnus Enzensberger die USA mit Nazi-Deutschland verglichen und ist nach Kuba gegangen. Peter Weiss hat Che Guevara nachgeweint. Da haben Ältere die Studentenbewegung mit starker Rhetorik begleitet.

Raddatz: Weil mehrere von ihnen Sympathisanten waren. Es schmückt Günter Grass, dass er einen kühlen Kopf behalten hat.

SZ: Grass war der absolute Feind der 68er, ein Hass auf Gegenseitigkeit.

Raddatz: Meine damalige Begeisterung liegt in meinem Naturell und hängt sicher auch mit meiner Sozialisation zusammen - ich hatte immer einen sehr antibürgerlichen Affekt. Ich fand, dass endlich dies verkrustete Bürgertum in Westdeutschland aufgebrochen werden musste. Der Impetus der Studenten war mir sehr angenehm, ich habe das auch gefördert, unter anderem durch die Reihe rororo aktuell. Mir hat Dutschke sehr imponiert.

SZ: Und wo wäre die Grenze zur Verantwortungslosigkeit überschritten?

Raddatz: Verbal bin ich manchmal etwas überemphatisch. Bei mir wäre eine Grenze gewesen, unreflektiert jemandes Eigentum zu beschädigen. Ich war das, was Lenin den bürgerlichen Idioten nannte. Ich war auch bei den Demonstrationen dabei, ging aber auf dem Bürgersteig mit.

SZ: Und Sie haben ein Buch wie das von Bahman Nirumand über Persien unter Berliner Studenten verteilen lassen und damit den Protest angefacht.

Raddatz: Wenn ich mich nach einem meiner maîtres penseurs etwas angeberisch sartrisch nennen will, dann war das Fritzchen Raddatz in Sartre-Zwergformat. Ich gab denen die Möglichkeit, zu publizieren, ihre Stimme zu erheben und so ihre Ansichten zu verbreiten.

SZ: Wie mit dem Buch gegen den Schah.

Raddatz: Da gab es eine große Debatte bei Rowohlt, weil Nirumand in dem Manuskript zur Ermordung des Schahs aufrief. Das wurde dann gestrichen. Heute könnte ich nicht mehr sagen, ob das richtig oder falsch war. Fürstenmord ist von den alten Zeiten bis zum Schah oder später eine legitime Wunschvorstellung gewesen. Denken Sie an Büchner. Christoph Hein schreibt in einem Aufsatz, dass in Büchner das Mitglied einer Roten-Armee-Fraktion zu erkennen wäre, wenn man ihn genau läse. Nun kann man das ja konjugieren und sagen: Hätte Herr Stauffenberg besser den Anwalt fragen sollen?

SZ: Hat man in so einer theatralischen Situation, wenn man vor Hunderten, vielleicht Tausenden spricht, nicht augenblicksweise das Gefühl, ein Volkstribun zu sein?

"Der Spiegel" mit den dritten Zähnen

Raddatz: Volkstribun wäre ein zu großmäuliges Wort, aber ich hatte schon das Gefühl, jemand zu sein, der für andere spricht, andere mitreißen will, anderen ein kleiner revolutionärer Prediger sein will. Oder jemand, der den Kamin anzündet, damit es mal ordentlich Zug gibt.

SZ: Sie waren in der DDR bei Volk und Welt, im Westen bei Rowohlt, danach Feuilletonchef bei der "Zeit". Irgendwann haben Sie angefangen, Erzählungen und Romane zu schreiben. Hatten Sie bis dahin Ihr Leben verfehlt?

Raddatz: Ich habe einen von mehreren Zügen verpasst. Ich bin als Kulturmanager auf dem einen schnellen Zug geblieben. Dennoch war in mir mein eigenes Leben verbunkert. Als die Erzählung "Kuhauge"...

SZ: . . . Ihr erster großer literarischer Text . . .

Raddatz: ...als "Kuhauge" da war, kam ein Kollege zu mir und sagte: "Sie wissen, wie wir alle an Ihnen hängen, aber wollen Sie eigentlich Feuilletonchef sein oder Romancier werden?" Da habe ich zu ihm gesagt: "Wie würden Sie denn mit jemandem wie Pasolini umgehen? Der war alles auf einmal: Lyriker, Leitartikler, Kommunist, Katholik, schwul, Romancier." Hier komme ich zurück auf mein Bild mit den Zügen. Da sagte ich mir: Es gibt doch auch noch ein anderes Gleis, das gehört dir dann. Das ist dein Gleis, das ist dein Zug, den du fährst, du bist nicht nur der Mann mit der roten Kelle, der sagt, Hubert Fichte kann abfahren, Walter Kempowski kann abfahren, oder Peter Weiss hat den Zug verpasst.

SZ: Trotzdem erstaunlich, wie lange Sie mit dem Eilzug unterwegs waren.

Raddatz: Ich habe jahrelang nicht wechseln wollen. Ich meinte damals, wieso eigentlich, ich bin der genießerische, der sinnliche Mensch, und meine Sinnlichkeit kann beides abdecken. Ich habe ja auch nicht mit Erscheinen von "Kuhauge" aufgehört, Feuilletonchef zu sein.

SZ: Aber Sie waren der Sache auch müde.

Raddatz: Ein Ermüdungsvorgang, der sich ausbreitete, auch im Ressort. Ich habe das Inszenatorische geliebt, und ich bin immer bei Rot über die Ampel gegangen. Ich stürzte also rein und sagte immer: "Das ist zu lahm!" oder "Das ist zu brav!" oder "Schon wieder so eine endlose Kritik über Ulrich Wildgruber!". "Ich will was über die Springer-Beerdigung", verlangte ich, das ist die große Sache, über die man sich aufregen sollte, und ich wollte aufregen, immer wieder. Da kam dann eine Ermüdung, vor allem beim Besitzer der Zeit, bei Gerd Bucerius.

SZ: In Ihren Erinnerungen kocht der Hass auf Bucerius und die Gräfin Dönhoff.

Raddatz: Bei Bucerius ist es kein Hass, sondern die Verletzung, die er mir zugefügt hat, und die ich zurückgezahlt habe.

SZ: War es eine Kränkung?

Raddatz: Darauf können wir uns einigen. Bei der Gräfin ist das anders. Die Gräfin war für meine Begriffe verlogen. Wie sie sich ewig selber das Kleid der Widerstandskämpferin anzog und es nie dementiert hat! Da bin ich wahnsinnig empfindlich.

SZ: War das von Anfang an so?

Raddatz: Das hat sich im Älterwerden bei ihr mehr und mehr festgesetzt und möglicherweise unter dem Einfluss von Helmut Schmidt verstärkt, der an diesem Heiligenschein mit Riesenflaschen Sidol geputzt hat. Auch bei ihr ist es kein Hass, sondern Abscheu. Mich hat diese Doppelmoral abgestoßen, auch ein bisschen angeekelt. Als Ulrike Meinhof in den Untergrund abschwamm, wurde die Frage zum Gesellschaftsspiel: "Was tätest du, wenn die Meinhof heute Abend klingelt?" Die Gräfin sagte: "Ich würde ihr Geld geben und sie wegschicken." Das ist genau das, was ich zum Kotzen finde.

SZ: Und was hätten Sie gemacht?

Raddatz: Ich denke, dass ich ihr gegen alle Vernunft und Überlegung und Abwägung Obdach gegeben hätte.

SZ: Sie wissen, was mit Peter Brückner passiert ist, der es getan hat.

Raddatz: Ich sage ja: gegen alle Vernunft. Gegen Ende meiner Jahre bei der Zeit hat Frau Dönhoff einen scharfen Gegen-Raddatz-Artikel geschrieben und mir am selben Tag ein handschriftliches Briefchen ins Haus geschickt: "Es tut mir so leid, ich musste es tun." Wenn sie mich nicht mehr ertragen konnte, war es ihr gutes Recht, es zu sagen. Aber doch nicht so verlogen.

SZ: Sie schreiben immer noch in der "Zeit".

Raddatz: Bucerius selber ist nach dem von ihm initiierten Krach und der Entlassung extra nach Kampen gekommen und hat einen ganzen Nachmittag bei mir gesessen. "Was habe ich bloß getan", sagte er einleitend, und hinterher hat er mich umarmt und gesagt: "Vielen Dank, dass ich kommen durfte, es war für mich seit zwei Jahren der bewegendste Tag."

SZ: Das nennt man Gutsherrenart!

Raddatz: Das Kapital hat das letzte Wort. Bucerius war der Besitzer. Und ein Feuerkopf.

SZ: Damit passte er doch gut zu Ihnen.

Raddatz: Ja, weswegen Ralf Dahrendorf in seiner Bucerius-Biografie sagt, eigentlich haben sich die beiden geliebt. So weit möchte ich nicht gehen. Das ist anders bei der Gräfin. Wenn ich bei Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" alle drei Bände negativ rezensiert habe, käme ich heute noch nicht auf den Gedanken zu sagen: "Ich hab's nicht so gemeint." Doch, ich habe es immer so gemeint.

SZ: Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Wie finden Sie die "Zeit" heute?

Raddatz: Ich habe befürchtet, dass Sie so was fragen. Ich weiß nicht, ob es von mir korrekt wäre, wenn ich da Noten verteile.

SZ: Gut, dann unser Feuilleton allgemein . . .

Raddatz: Im Feuilleton stört mich die Temperamentlosigkeit. Mir geht es sehr oft so, dass ich nach der Lektüre eines Artikels, egal ob in der Süddeutschen, bei der Zeit oder in der FAZ, am Ende nicht genau weiß, wie denn nun das Urteil ausgefallen ist. Wo hat jemand emphatisch reagiert? Wo schwimmt mal einer gegen den Strom und sagt was gegen Daniel Kehlmann? Meinetwegen: "Das ist alles ein großer Irrtum, so gut ist das Buch nicht, dass es 900.000 Auflage haben muss." Ich habe immer versucht, ein politisches Feuilleton zu machen. Vorhin habe ich das Bild mit dem Kamin benutzt. Ich wünschte mir noch mal mehr Zug im Kamin. Im Feuilleton herrscht eine Form der ästhetischen und Meinungsbeliebigkeit - die grassiert wie ein Fußpilz.

SZ: Die Politisierung des Feuilletons war eine Erfindung der "Zeit". Man kann sich aber nicht jede Woche und schon gar nicht täglich über die Welt empören.

"Der Spiegel" mit den dritten Zähnen

Raddatz: Das kann ja sein, weil man dann überhaupt nicht mehr empört ist. Dann ist es nur noch Diarrhö.

SZ: Aber der Schmarrn, der inzwischen im Feuilleton steht und gedankenschwer behandelt wird, von der Lastwagenmaut bis zur Polkappenabschmelzung - daran sind dann Sie doch schuld.

Raddatz: Ich nehme diese Schuld gerne auf mich. Ich finde es trotzdem keine Blamage oder Fahrlässigkeit, sondern wünschte mir nur den richtigen Gegenstand! Ein Beispiel: Ich fand die Rede des Papstes in Auschwitz schlechterdings empörend, eine Beleidigung für alle Opfer. Ich habe das in den Feuilletons nicht gelesen.

SZ: In keinem deutschen Feuilleton?

Raddatz: In keinem. Es war eine einzige Infamie, die er auch noch als Gebet deklariert hat. Der Mann hat als moralische Instanz - und das soll glaube ich ein Papst sein - total versagt. Aber ich höre da schon die Abwehr: Wir haben gerade etwas anderes im Umbruch, vielleicht nächste Woche. Nein, das darf - nehmen wir die Zeit - auch nicht auf Seite zwei oder im Dossier stehen. Sondern da muss ein scharfer Zweihundertdreißig-Zeilen-Artikel auf der Eins Stellung nehmen.

SZ: Sehen Sie denn keinen Nachfolger, einen, der in Ihrem Geist wirkt?

Raddatz: Tut mir leid, ich wüsste keinen Einzigen. Frank Schirrmacher hat mir mal gesagt, er sei durch mich sozialisiert worden, aber Schirrmacher sagt viel. Hier ist es aber sogar bezeugt. Als er in der Zeit die Blattkritik machte, begann er sie mit "Raddatz, Raddatz, Raddatz". Heute würde er das nicht mehr sagen, weil er zu sehr unter der Knute von Reich-Ranicki steht.

SZ: Sie waren offenbar ein Glückskind. Oder machen die Jüngeren etwas falsch?

Raddatz: Fritz die Ratte, wie ich mich selber nenne, die Nachkriegsratte, musste hungern und frieren, hatte kein Geld und überhaupt nichts - da musste man durch oder man ging unter. Wir hatten diese große Chance. Die Heutigen haben keine Verletzungen durch ihre Väter. Das waren alle schon Kreisbeamte und Direktoren, Eisenhändler, die schenken ihren Kindern zur Hochzeit eine Eigentumswohnung. In Berlin gibt es diese Doppelworte wie Speiserestaurant. Ein anderes, sehr schönes Wort ist Vorteilschade. Das ist der Vorteilschade meiner Generation. Wir, die wir Krieg, Nazizeit, vor allem Nachkriegszeit miterlebt haben, wir leiden alle an einer Urverletzung. Dadurch sind wir alle so sehr früh und jung auch was geworden. Wenn Sie denken, ich war 22 und leitete einen Verlag. Mit 22 fangen Sie heute zu studieren an. Wir mussten uns durchschlagen. Ob auf dem Schwarzmarkt wie Enzensberger oder Siegfried Lenz oder auch ich - oder ob im Kampf mit den Vätern: War er ein halber oder doch ein ganzer Nazi?

SZ: Dieser Vorteil fällt heute weg.

Raddatz: Es gibt heute natürlich mindestens so begabte oder begabtere als Raddatz. Aber es gibt eine Seelenlage, eine Intellektlage, eine Gehirnlage im Lande, die dem Löschpapier gleicht, das alles aufsaugt. Das tut der Kultur nicht gut. Caravaggio war kein unerregter Mensch. Warum gehen wir heute hin und gucken uns seine Bilder an? In Klagenfurt schmeckt man ein bisschen was ab und sagt: "Naja, das ist ganz hübsch geschrieben, und einen Preis müssen wir sowieso verleihen, warum dann nicht der Dame oder dem Herrn?" Und wenn man das dann liest, fragt man sich: "What is this all about?"

SZ: Aber das ist doch der Fluch des Feuilletons, zu allem eine starke Meinung.

Raddatz: Sie sehen das Gegenteil am Schicksal des Spiegel, die zeigen nicht mal mehr ihre Zweitzähne, die haben jetzt Drittzähne. Ich wüsste nicht mehr genau, warum ich jede Woche den Spiegel lesen muss.

SZ: Liegt es daran, dass sich die Redakteure und Verlage zu gut verstehen?

Raddatz: Aust interviewt mit Schirrmacher zusammen ich weiß nicht wen. Das ist Polstermöbeljournalismus. Die sitzen bequem und warm auf dem Sofa und tun sich gegenseitig nichts an. Damit meine ich nicht, dass Herr Aust Herrn Schirrmacher anpissen soll und Herr Döpfner wiederum Herrn Aust. Aber das entwässerte, entzogene Feuilleton gibt lieber kleine Geschmacksurteile ab, es greift aber nicht mehr die großen Debatten auf, ruft sie künstlich hervor . . .

SZ: . . . aber genau die großen Debatten greift doch Frank Schirrmacher . . .

Raddatz: . . . Schirrmacher tut das zum Teil sehr erfolgreich, und ich finde, dass er manchmal auch sehr gut schreibt. Oft aber sagt man sich, mein Gott, jetzt hat er tatsächlich überlegt, womit kann ich aus einem Dackel einen Tiger machen? Es gibt genug gesellschaftliche Probleme, ob in der Wirtschaft, ob in der Politik, in der Außenpolitik, zu denen man andere Stimmen hören will. Nehmen wir den Nahen Osten. Es leben viele Autoren auf der Welt, die dazu etwas zu sagen hätten: Israelis, Araber, Südafrikaner. Wäre ich heute noch am Dirigentenpult, säße ich erst mal drei Tage lang am Telefon und würde versuchen, vier Seiten zusammenzubekommen mit widersprüchlichen, radikalen Meinungen.

SZ: Radikal wie Jostein Gaarder?

Raddatz: Wenn er gesagt hat, Israel muss verschwinden, dann ist das wirklich nicht mehr Temperament und Zug im Kamin, sondern unmöglich. Dann redet er wie der Mensch aus dem Iran, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Es gibt eine Grenze. Wie ich am Anfang unseres Gespräches gesagt habe, ist die Grenze erreicht, wenn jemand dazu aufrufen würde, den Schah zu ermorden.

SZ: Wenn es das Angebot eines namhaften Autors gäbe, könnten Sie dann wirklich der Verlockung widerstehen, mit einer so extremen Position aufzumachen?

Raddatz: Vermutlich würde ich es drucken, und auf derselben Seite eine Gegenstimme.

SZ: Und was würde der "Zeit"-Herausgeber Helmut Schmidt sagen?

Raddatz: Naja, das sind les relations suspendues, die Beziehungen sind eingefroren. Ich halte Helmut Schmidt für einen dickköpfigen Spießer und Rechthaber, der - ganz gleich ob von der Orgel, von der Backsteingotik oder von Barlach - alles immer besser verstehen will als andere und einen ewig belehrt. Das geht mir bei ihm sehr auf den Keks. Dann muss ich wieder sagen, dass ich erstaunt und manchmal auch voller Bewunderung bin, wie er die heutige Gesellschaft in seinen Artikeln in der Zeit kritisiert und den Turbo-Kapitalismus, ich glaube er nennt ihn "wildgewordenen Kapitalismus", angreift. Da er ja nun nicht im Verdacht des extrem Linken steht, ist das besonders überzeugend und beeindruckend.

SZ: Sind Sie als Redakteur mit ihm je aneinandergeraten?

Raddatz: Aneinandergeraten wäre zu wenig. Er hat mal gesagt: "Immer nur Peymann und Zadek, warum denn nicht mal Boy Gobert oder das Ohnsorg-Theater?" Da war ich hochmütig und habe gesagt: "Herr Schmidt, es mag sein, dass Sie was vom Dollarkurs verstehen oder vom Ölpreis, davon verstehe ich nichts, Disagio verwechsle ich immer mit Adagio. Aber überlassen Sie mir bitte das Feuilleton!"

Fritz J. Raddatz wurde am 3. September 1931 in Berlin als Sohn eines ehemaligen Offiziers geboren, der es zum Ufa-Direktor gebracht hatte. Gelegentlich kamen Heinz Rühmann und Zarah Leander zu Besuch. Wörter wie Sexualität und Faschismus seien ihm als Kind fremd gewesen, schreibt Raddatz in seinen abenteuerlichen Memoiren "Unruhestifter", sondern "ich wurde in sie hineingelebt". Noch vor der Promotion wurde er stellvertretender Cheflektor beim Verlag "Volk und Welt", bis er 1958 die DDR verließ. Als stellvertretender Verlagsleiter bei Rowohlt brachte Raddatz mit der Reihe rororo aktuell politische Aufklärung unters Volk. Am bekanntesten und nicht wenig umstritten war er als Feuilletonchef der Zeit. Seit seiner Entlassung 1985 durch den Verleger Gerd Bucerius und die Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff schreibt er vor allem Bücher. Zu seinem 75. Geburtstag erscheinen nun bei Rowohlt unter dem Titel "Eine Erziehung in Deutschland" seine Romane, bei zuKlampen neue Essays, bei Mare "Mein Sylt" und bei Suhrkamp "Liebes Fritzchen/Lieber Groß-Uwe", der Briefwechsel mit Uwe Johnson.

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