Projekt "Way to Wellville":Denkgeschwindigkeiten

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Vor vier Jahren hat Esther Dyson eine Aufgabe übernommen. Ihr Ziel ist, fünf US-Gemeinden dabei zu helfen, gesünder zu leben. Hier nennt sie ihre wichtigste Erfahrung: Wer in der Gegenwart leben will, muss sein Zeitgefühl in den Griff bekommen.

Von Esther Dyson

Vor vier Jahren habe ich eine neue Aufgabe übernommen. Ich versuche seitdem, ein Projekt voranzubringen, das sich "Way to Wellville" (Der Weg zum Ort des Guten Lebens) nennt. Es war ursprünglich als ein Fünfjahresprojekt angelegt mit dem Ziel, fünf Gemeinden in den USA dabei zu unterstützen, ein gesünderes Leben zu führen. Als Lehrerin und ausgebildete Ökonomin hatte ich mir folgende Frage gestellt: "Warum geben wir vor allem in den USA so viel Geld für Gesundheitsfürsorge und Pflege aus - mit so kläglichen Ergebnissen? Obwohl wir unmittelbar in Gesundheit investieren könnten: Das schafft Widerstandsfähigkeit, ein hohes Gut, das es Menschen ermöglicht, mit physischen und psychischen Herausforderungen besser umzugehen.

Natürlich weiß jeder, dass es ganz gut ist, gesund zu sein. Doch den meisten Leuten fehlen konkrete Belege dafür, dass sie ihr Verhalten tatsächlich nachhaltig positiv beeinflussen können, ganz egal, ob als Individuen, Unternehmen, Wähler oder auch als Regierungen. Sie machen sich vor, so etwas irgendwann in der Zukunft anzugehen. Doch diese Zukunft bleibt eben immer die Zukunft.

Vier Jahre nach Projektbeginn habe ich eine Menge gelernt. Vor allem wie wichtig die Beziehung der Menschen zu Zeit ist. Das deckt sich sowohl mit den Befunden des Nobelpreisträgers Danny Kahneman wie des Neurowissenschaftlers Marc Lewis: Jeder Mensch denkt auf seine Weise sowohl schnell als auch langsam. Doch in unserer schnelllebigen Gegenwart verlieren mehr und mehr Menschen die Fähigkeit, langsam und vor allem auf lange Sicht zu denken, mit einem Gespür für die Zukunft, für Sinn und Zweck von Handlungen auf ein zukünftiges Ziel hin.

Es gibt das berühmte "Marshmallow-Experiment", das Walter Mischel an der Stanford-Universität durchgeführt hat. Dabei gibt man Kindern ein Marshmallow und sagt ihnen, wenn ihr es schafft, das nicht sofort aufzuessen, dann bekommt ihr ein zweites. Diese Kinder wurden über viele Jahre hinweg beobachtet, und man stellte fest: diejenigen, die es geschafft hatten, ihre Begierde zu zügeln, waren besser in der Schule, in ihren Jobs, überhaupt in ihrem gesamten Leben.

Wir nehmen heute nicht mehr an, dass Kinder mit einer Vorbestimmung geboren werden. Natürlich gibt es einige genetische Einflüsse auf den Charakter und auch Umweltbedingungen. Diejenigen Kinder, die sich in dem Experiment das erste Marshmallow schnappen, sind ja nicht unterbelichtet. Forschungen auf dem Gebiet der "Negativen Kindheitserfahrungen" zeigten, dass es eine starke Verbindung zwischen abwesenden Eltern, Drogenkonsum, Kriminalität, innerfamiliärer Gewalt und anderen Leiden gibt. Ebenso leiten sich davon Probleme im späteren Erwachsenenleben ab wie Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit, Inhaftierung und schlechte gesundheitliche Verfassung. Kurz gesagt: Je schlechter die Kindheit, umso schlechter ist alles, was darauf folgt.

Doch offensichtliche Zusammenhänge bedeuten noch lange kein auswegloses Schicksal. Und ebenso, wie wir diese Problemlagen im Allgemeinen immer besser verstehen gelernt haben, und besonders in der konkreten Situation unserer Wellville-Gemeinschaften, gelangen wir auch zu immer besseren Einsichten, wie man Widerstandskräfte aufbaut, also die Fähigkeiten, den Belastungen und Angriffen zu widerstehen und stattdessen langfristig und zielstrebig zu denken. Am wichtigsten ist für Kinder die Präsenz von Erwachsenen, die sich kümmern. Wenn es nicht die leiblichen Eltern sind oder sein können, so kann schon die Präsenz eines einzelnen sorgsamen Lehrers einen bedeutenden positiven Einfluss auf das Leben und die Zukunft eines Kindes haben.

Die Moral lautet also: Kurzzeitbegehren ist Sucht. Langzeitwünsche werden zu Zwecken. Raten Sie mal, was hier obsiegt. Und was obsiegen sollte.

Esther Dyson ist Investorin und als Gründungsvorstand der ICANN eine Pionierin des Internet.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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