Krautrock:Raketengleich im Vorwärtsgang

Bandfoto "Camera"

Quecksilbrig kreiseln: Camera.

(Foto: Mehdi Benkler)

Der Neo-Krautrock der Berliner Band "Camera" drängt mit gleißendem Drive aus der Genre-Nische.

Von Martin Pfnür

Die rhythmisch ziemlich simple, mit überschaubarem Instrumentarium kreierte, und dabei doch gewaltige Wucht, mit der einen dieses Album innerhalb von ein paar Sekunden packt - diese Wucht ist mit dem Titel des ersten Songs sehr gut beschrieben: "Affenfaust". Camera, auf den Straßen und in den U-Bahnhöfen Berlins entstanden und zur formidablen Instrumentalband gereift, eröffnen mit "Affenfaust" ihr drittes Album "Phantom Of Liberty" (Bureau B). Zu hören ist also erst einmal ein quecksilbrig kreiselnder Synthesizer, eine sphärisch nachhallende Gitarre im Angriffsmodus und ein Viervierteltakt, den Michael Drummer stoisch-maschinenhaft in sein Schlagzeug prügelt.

Die Rede ist hier natürlich von einer Neuinterpretation, oder besser: einem Konzentrat jener oftmals brillanten Experimental-musik, deren Blütezeit in das politisch aufgeladene Deutschland der frühen Siebziger fiel, und die von der schwer angefixten englischen Musikpresse - in recht fieser Anlehnung an das Weltkriegs-Stereotyp der Deutschen als "Krauts" - bald "Krautrock" genannt wurde. Dass sich der Genre-Begriff von England aus etablierte, erzählt dabei nicht wenig über das langjährige Nischendasein dieser Klänge, mit denen Bands wie Can, Neu!, Harmonia, La Düsseldorf, Amon Düül II oder Cluster als Propheten im eigenen Land auf höchst unterschiedliche Weise in die Zukunft wiesen, indem sie Elemente aus dem Psychedelic Rock, dem Jazz, dem Funk, der Welt- oder der Neuen Musik mit dem Einsatz monströser Synthesizer und der Repetition als rhythmischer Grundbedingung kombinierten.

Das Schöne am Dasein in der Nische ist ihre Schutzfunktion - der Krautrock ist auch heute noch präsent, in England ebenso wie in seinem Herkunftsland. Er wird verehrt, diskutiert, aufgesogen und neu interpretiert. Da ist etwa der hörbare - und von Bandseite immer wieder gern bestätigte - Einfluss der Can-Pioniere auf heutige Art-Rock-Titanen wie Radiohead. Da ist ein Projekt wie Beak, mit dem sich Portishead-Mastermind Geoff Barrow sehr gelungen als Neo-Krautrocker versucht, oder auch eine Diskussionsreihe wie "Kraut & Drastik" in den Münchner Kammerspielen - solche Veranstaltungen sind stets im Nu ausverkauft. Und nicht zuletzt sind da auch junge deutsche Bands wie Von Spar oder Stabil Elite, die den hypnotischen Geist dieser Musiken zuletzt ziemlich clever in den (Soft-)Pop überführten, was bei Camera wiederum zweifelsfrei nicht der Fall ist.

Vielmehr greift das Trio die pulsierende Motorik und den kerzengerade nach vorne strebenden Drive von Neu! auf und verpasst ihm mittels gleißender, flirrender, manchmal leicht vertrasht klingender, electropunkiger Synthies noch mehr Kraft und Fülle, während die Gitarre als Drone- Effekt- und Rhythmusgerät stets im Dienste des großen Ganzen steht. Und in der Tat: Alles ist hier Energie und Atmosphäre. Alles strömt. Alles greift und taktet in Endlosschleife ineinander. Dynamisch, unberechenbar und vor allem vitalisierend ist das, wie Camera auf "Phantom of Liberty" mal in Form eines fein getrommelten Ragas ("Festus") davonschweben, um einen gleich darauf mittels einer rasenden Druckwelle ("Nevernine") regelrecht zu überrennen; wie sie mit edler Feinarbeit den Fokus ganz und gar auf den Groove legen können ("Ildefons"); oder wie sie, Straßen-Band, die sie nun mal waren, einen per Field-Recording hinaus ins Freie schicken, um dort mit einer Klangszenerie aufzuwarten wie sie entschleunigter kaum sein könnte ("Reindenken/Raus"). Doch klar: Am besten ist diese große, unbekannte Band im Zweifelsfalle immer dann, wenn sie den Vorwärtsgang einlegt, wenn Gitarre, Schlagzeug und Synthesizer zu etwas Strahlendem verschmelzen, das raketengleich durch die Hörgänge rast. Wer mag, kann sich da auch eine Affenfaust vorstellen.

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