Printmedien:Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung!

Gestorben 2020? Dank Internet können die Printmedien ihre Schwächen abschütteln und ihre Stärken ausbauen.

Heribert Prantl

Der Amerikaner Philip Meyer ist der Fukuyama der Medienwelt. Seitdem Meyer im Jahr 2004 ein Buch mit dem Titel The Vanishing Newspaper veröffentlicht, also das Verschwinden der Tageszeitung angekündigt hat, hören sich die Podiumsdiskussionen auf Medientagen an wie Vorbereitungen zur Beerdigung. Und wenn die Experten über das Internet debattieren, dann hat man bisweilen das Gefühl, sie kritzeln derweil schon am Entwurf der Todesanzeige: "Geboren 1603 in Straßburg/Elsass, gestorben 2020. Wir werden der Zeitung ein ehrendes Andenken bewahren".

Printmedien: Das Verschwinden der Tageszeitung wird zum Dauerthema in den Medien.

Das Verschwinden der Tageszeitung wird zum Dauerthema in den Medien.

(Foto: Foto: dpa)

Man mag sich fragen, wo eine solche Todesanzeige eigentlich publiziert werden soll: Im Internet? Für derlei Überlegungen ist es aber erstens ein bisschen früh, denn selbst Professor Meyer hat den Tod der Tageszeitung erst für das Jahr 2043 vorhergesagt. Zweitens könnte es sich mit den Prophezeiungen Meyers so verhalten wie mit denen seines Kollegen Francis Fukuyama, der 2002, als das östliche Imperium und der Staatskommunismus zusammengebrochen waren, das "Ende der Geschichte" ausgerufen hat. Die Geschichte mochte sich dann nicht daran halten.

Aber es gibt den Ehrgeiz, das Zeitungssterben und die von Meyer berechnete Mortalität zu beschleunigen. In Berlin jedenfalls gibt es eine Zeitung, die im Herbst 2005 vom britischen Investor David Montgomery, dem Chef der Mecom-Holding, gekauft worden ist. Seitdem bemüht sich das Mecom-Management samt seinen örtlichen Statthaltern, der Berliner Zeitung den Journalismus auszutreiben und aus der Zeitung eine Benutzeroberfläche zu machen - auf der immer weniger von dem platziert wird, was Geld kostet (nämlich gute Artikel), aber immer mehr von dem, was Geld bringt (nämlich Werbung und Product-Placement).

Also werden Journalisten entlassen, Korrespondenten eingespart, Redaktionen aufgelöst, eigene Texte durch solche der Agenturen ersetzt oder sonst möglichst billig eingekauft. Die Chefredaktion verwandelt sich in eine Geschäftsführung. Geist mutiert in Geistlosigkeit. Man spart, bis die Leser gehen. Es ist wie eine absonderliche Version des Märchens vom Rumpelstilzchen: Es wird - aus Geldsucht und Unverstand - Gold zu Stroh gesponnen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum das Internet etwas sympathisch Antiautoritäres hat - aber noch lange nicht das Ende der Zeitung bedeuet.

Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung!

Mit den Überlegungen des Philip Meyer hat das wenig zu tun: Als er davon schrieb, dass im Jahr 2043 zum letzten Mal ein Exemplar einer Zeitung im Briefkasten oder auf der Türschwelle irgendeines Bürgers irgendwo in den Vereinigten Staaten liegen werde, da dachte er nicht an Heuschrecken, welche die Zeitungen und ihre Redaktionen kahlfressen - er dachte an das Internet. Das neue Medium werde dem alten über kurz oder lang den Garaus machen, weil es so rasend schnell sei und sich in der Echtzeit bewege.

Und Meyer hat natürlich recht damit, dass das Internet rasend schnell ist: Es ist schnell, es ist ubiquitär und es hat etwas sympathisch Antiautoritäres. Aber ein sympathisches neues Medium bedeutet mitnichten automatisch das Ende des sympathischen alten. Das Internet ist nicht das Ende der gedruckten Zeitung; es nimmt der gedruckten Zeitung nur eine Aufgabe ab, die sie bisher, so gut es halt ging, zu erfüllen versuchte. Bei der "Vermeldung" von Ereignissen kommt und kam die Zeitung bei allem Bemühen immer zu spät.

Die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Öffentlichkeit schrumpft

Diese natürliche Schwäche war den Zeitungen seit jeher bewusst. Die Zürcher Zeitung stellte im Titelblatt ihrer ersten Ausgabe vom 12. Januar 1780 nüchtern fest, dass es ihr bei allem Bemühen versagt bleiben werde, "die Weltbegebenheiten früher anzuzeigen, als sie geschehen sind". Der Vorsprung, die Vermeldung eines Ereignisses zumindest vor der gesamten Konkurrenz, war deshalb bisher Ziel jedes Unternehmens, das mit Informationen Geschäfte macht - erreichbar durch ein ausgebautes Korrespondentennetz, durch Ausnutzung aller technischen Hilfsmittel bei der Übermittlung, durch Erschließung neuer Nachrichtenquellen.

Dank dieses Bemühens schrumpfte die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Öffentlichkeit immer weiter. Mit dem Internet ist das Ende dieser Entwicklung erreicht. Es erreicht das Publikum im Idealfall in Echt-Zeit. Es verfügt also über eine Fähigkeit, die eine Zeitung bei allergrößtem Bemühen nicht erreichen kann.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Zeitung sich auf anderes konzentrieren kann als das Internet - und worauf.

Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung!

Der Tod Napoleons auf St. Helena am 5.Mai 1821 wurde in der Londoner Times als erster Zeitung zwei Monate später gemeldet, am 4. Juli 1821. Die Vossische Zeitung in Berlin druckte die Times-Meldung noch zehn Tage später nach. Die Meldung über den Tod Mahatma Gandhis lief 1948 schon wenige Minuten nach dem Schuss des Attentäters in allen Orten der Erde ein; sie gilt in der Fachliteratur als das klassische Beispiel moderner Nachrichtentechnik.

Der Fortschritt der Technik und ihr Einsatz im Nachrichtenwesen schlug sich schon früh in Zeitungstiteln wie Telegraph nieder. Telefon, Funk, Satellit, Radio und Fernsehen machten aus einer distanzierten eine fast miterlebende Öffentlichkeit - aber nur fast. Das Internet beendet das "fast".

Die Zeitung kann Wegweiser sein im Wirrwarr

Weil es das Internet, weil es also nun bessere, schnellere Methoden bloßer Informationsvermittlung gibt, kann sich die Zeitung auf anderes konzentrieren - auf Analyse, Hintergrund, Kommentierung, auf Sprachkraft, Gründlichkeit und Tiefgang, auf all das, was sich in der Hetze der Echtzeit im Internet nicht leisten lässt.

Die Zeitung kann Wegweiser sein im Wirrwarr; sie kann Informationen destillieren, konzentrieren, auswerten, bewerten; sie kann eine neue Weltbühne aufstellen; sie kann Gebrauchsanweisung sein für das digitale Diesseits. Wenn eine Zeitung das gut macht, wird sie immer genügend Leser haben, die sich an ihr festhalten, weil sie der Realitätsvergewisserung dient, weil sie ein Schlüssel ist zum Verstehen der globalisierten Welt, deren Abbild das Internet ist. Eine solche Tageszeitung wird dann eine Solidität und eine Autorität haben, von der das Internet nur träumen kann.

Die Tageszeitung muss sich verändern, aber wie? Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Print-Journalismus in Zukunft ausmacht.

Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung!

Die Tageszeitung muss sich, wird sich verändern - sehr viel mehr, als die Konkurrenz von Rundfunk und Fernsehen sie verändert hat. Der Inhalt der Zeitung wird ein anderer sein, als man es bisher gewohnt war, aber sie wird immer noch und erst recht Zeitung sein: Und die Texte, die dort stehen, werden Nachrichten im Ursinne sein - Texte zum Sich-danach-Richten. Das gibt es nicht umsonst, das kostet. Mit einem Journalismus, der verdummt, kann man das nicht leisten. Ein Billigjournalismus ist ein Journalismus zum Wegwerfen, nicht zum Lesen. Wenn sich eine Zeitung an Anzeigenblättern orientiert, ist sie keine Zeitung mehr, sondern eben ein Anzeigenblatt.

Zeitung und Internet: Die bloße Beschwörung des Rieplschen Gesetzes hilft nichts. Es lautet kurz gefasst so: Kein neues Medium substituiert ein altes. Dieser Satz ist der große Hoffnungssatz der Zeitungsverleger. Wolfgang Riepl, der jahrzehntelang Chefredakteur der Nürnberger Zeitung war, entwickelte ihn 1913 in seiner Dissertation: Es ergebe "sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen." Das hat sich bisher tatsächlich so bewahrheitet.

Ein Versäumnis: Informationsquellen exklusiv gewinnen

Auch bei Nutzung aller Finessen - die Zeitungsnachricht folgt dem Ereignis bestenfalls so wie der Donner dem Blitz. Weil das so ist, und weil die Konkurrenz die womöglich teuer recherchierte Nachricht mit wenig Zeitverzögerung übernehmen kann, haben Zeitungen in der Vergangenheit immer wieder versucht, Informationsquellen exklusiv zu gewinnen, sie also zu monopolisieren.

Als das Luftschiff Graf Zeppelin 1928 nach Amerika flog, sicherten sich die Verlage Scherl und Ullstein sowie die Frankfurter Zeitung die "europäischen Rechte der Berichterstattung" durch einen Exklusivvertrag. Die Funkberichterstattung von Bord aus wurde ausschließlich den Vertragsunternehmen überlassen, die übrigen Mitfahrer, Mannschaft und Passagiere, zum Schweigen verpflichtet, Meldungen über den Standort des Schiffs an die Nicht-Vertragspresse verweigert.

Jegliches zwischen Start und Landung liegende Ereignis wurde so zur Exklusivinformation der vertragsschließenden Verlage. Pikant war das Vorgehen des Luftschiffbauers Zeppelin deswegen, da die gesamte deutsche Presse durch Aufrufe zu einer "Zeppelin-Spende" maßgeblich zum Bau des Luftschiffs beigetragen hatte. Nachhaltige Pressepropaganda hatte die Fahrt des Luftschiffs zu einer Angelegenheit nationaler Ehre erhoben und das Bedürfnis des Publikums nach Information erheblich gesteigert. Umso empfindlicher traf die Presse das "Zeppelin-Nachrichtenmonopol". Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Zeitungen und Internet sich ergänzen.

Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung!

Ähnliche Versuche von Zeitungen, sich Exklusivität zu sichern, gab es immer wieder: Beim Bergwerksunglück von Lengede im Jahr 1963 ließ sich der Stern für eine Vergütung von (heute lächerlich wenig erscheinenden) 250 000 Mark die "Weltrechte" an den Erlebnisberichten der elf Geretteten übertragen. Und 1972, als das Misstrauensvotum der CDU/CSU im Bundestag gegen den SPD-Bundeskanzler Willy Brandt gescheitert war und der CDU-Abgeordnete Julius Steiner in Verdacht geriet, er habe sich seine Stimmenthaltung abkaufen lassen, schloss die Illustrierte Quick mit ihm einen Vertrag und versteckte ihn drei Wochen lang, um ihn exklusiv ausfragen zu können.

Im Zug dieser Recherchen gestand er, vom SPD-Fraktionschef Wienand mit 50 000 Mark bestochen worden zu sein. Die rechtliche Wirksamkeit solcher Verträge ist umstritten, faktisch bringen sie nicht allzu viel; jedenfalls der Kern der Geschichte kann sofort in allen anderen Medien publiziert werden. Exklusivverträge dieser Art werden heute noch häufig mit Verbrechensopfern geschlossen - die ihr Leid dann exklusiv ausbreiten. Befriedigt wird auf diese Weise aber weniger ein Informations- als ein Unterhaltungsinteresse.

Zeitungen und Internet ergänzen sich

All das waren und sind hilflose bis alberne Versuche, die natürlichen Defizite von Zeitungen und Zeitschriften zu überwinden. Den Endpunkt solcher Albernheiten markiert die grassierende Unsitte, Gedenktagen schon Wochen vor dem Gedenktag zu gedenken und Jubiläumsjahre schon Wochen vor dem Jubiläumsjahr einzuläuten. Es ist ein Indiz dafür, dass das Gefühl dafür verloren geht, womit man wirklich Exklusivität gewinnt: mit der Güte des Produkts.

Es wird davon geredet, dass Zeitungen und Internet sich ergänzen. Das stimmt dann, wenn jedes Medium seine spezifischen Stärken kennt. Die Stärke des Internets ist die Rasanz, die Stärke der Zeitung die Reflexion. Zeitungen, die sich darauf besinnen, werden interessanter, weil sie Uniformität und die Wiederholung des Immergleichen vermeiden.

Das Rieplsche Gesetz verlangt von den Zeitungen, sich immer wieder andere Aufgaben zu suchen. Das bedeutet heute: Die Zeit der Zeitungen als Generalanzeiger ist vorbei; es beginnt ihre Zeit als Generalschlüssel. Daran muss jeden Tag gefeilt werden, und dafür braucht es Leute, die das können und denen die Leser diese Fertigkeit zutrauen, gute Redakteure eben. Es kann dies eine neue, große Zeit der Zeitungen werden - weil sie befreit sind, weil sie nicht mehr ihre natürlichen Schwächen mit sich herumschleppen.

Die letzte Ausgabe der Weltbühne vom 7. März 1933 endete mit dem Satz: "Denn der Geist setzt sich doch durch". Das könnte, auch in viel weniger schwierigen Zeiten als damals, ein Motto für eine Zeitung sein.

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