Premiere:Welch ein Ersatz

Ibsens "Nora" im Cuvilliestheater

Von Egbert Tholl

Ganz kurz ist man irritiert, doch schnell begreift man die Situation. Und dann ist es unglaublich faszinierend: Das Publikum im Cuvilliestheater wird zum Voyeur. Auf der Bühne sieht man ein Zimmer zwischen zwei Türen, weiß, großbürgerlich, leer. Nie wird man in den dichten zwei Stunden etwas anders sehen als dieses Zimmer, erhaben und leicht verkantet in einen schwarzen Kasten hineingebaut. Wieder von Raimund Orfeo Voigt, der für die Regisseurin Mateja Koleznik bereits die Bühnenbilder für "Madame Bovary" und den hochspannenden "König Ödipus" entwarf. An "Ödipus" muss man auch denken, wegen des Bühnenkastens und der Distanz, die Koleznik einst mit Mikrofonen aufhob. Damals war der Kasten geschlossen, nun, bei Kolezniks dritter Arbeit fürs Residenztheater, ist er offen, aber nicht näher.

Man fühlt sich, als lauere man bei Nacht im Garten einer Villa und blicke heimlich in deren erleuchtetes Interieur. Man sieht eine wunderschöne junge Frau nach Hause kommen, in schönen Tüten bringt sie Weihnachtseinkäufe heim wie das Eichhörnchen die Nüsschen. Man sieht ihr zu, wie sie, deren Parfüm man bei allem Duft ihrer Erscheinung noch in der zehnten Reihe zu riechen meint, in den Tüten kramt, eine Süßigkeit zu Tage fördert, nascht. Dann hört man eine Stimme durch die Türe rechts, und husch versteckt die junge Frau die Nascherei in der Wandvertäfelung. Man hat beobachtet, wobei sie nicht ertappt werden wollte. Denn der, dessen Stimme man hörte, der will, das seine Lerche leicht durchs Haus flattert, und dafür darf sein Singvögelchen nicht beschwert sein von zu viel Süßem. Schließlich will man mit der Gattin ja auf dem Kostümball reüssieren.

Ibsens "Nora" hat Koleznik im Januar in Klagenfurt herausgebracht, nun ist die Inszenierung in München angekommen, weil man sich am Haus in Peter Handkes neuestem Textdschungel verlaufen hatte und Ersatz brauchte - gottlob. Mit der Inszenierung kam auch Till Firit, der spielt den Torvald Helmer und bleibt dann auch hier im Ensemble. Einer kannte also seine schwere Partie, die anderen schafften sie sich in drei Wochen drauf, sorgsam eingepasst in Kolezniks Inszenierung. Das Ergebnis begeistert nicht nur durch diesen sportiven Aspekt. Der Abend ist schön.

Gemeinsam schnitten Schauspieler und Regisseurin Ibsens ärgste Zöpfe ab, Kinder und Personal gibt es nur im Off, man spricht durch halboffene Türen mit ihnen. Durch die - letztlich leider nicht völlig konsequente - Entschlackung der Sprache, durch die Voyeur-Perspektive und durch das Spiel aller entsteht eine ungeheure Wahrhaftigkeit. In vielen Aspekten: aufgeregt plappernde Mädchen, Hanna Scheibe als die berückend traurige Frau Linde. Firits Torvald ist kein Arschloch, er versteht nur die Welt nicht, außer er steht in deren Zentrum. Markus Hering (Doktor Rank) ist ein in Würde sterbender Nosferatu, haltlos liebend in Verzweiflung. Gunther Eckes liefert als Krogstad auch seine echte Not ab. Und Nora, Genija Rykova, in jedem Moment diaphan, Person, Mensch und Rolle, keine Gattenkillerin, aber auch kurz hartes, stolzes Weib, flirrend schön, immer echt, zerrissen. Bleibt sie doch, geht sie?

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