Posen mit Mario Balotelli:Triumph der Erstarrung

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Die Pose, die Mario Balotelli nach seinem zweiten Tor gegen Deutschland eingenommen hat, ist pure Archaik. Bodybuilder nennen sie "Front Relaxed". Sie hat kunst- und filmhistorische Vorbilder, ist aber auch noch ganz woanders zu finden.

Bernd Graff

Es ist eine merkwürdige Pose, die Mario Balotelli da gestern nach seinem zweiten Treffer gegen Deutschland eingenommen hat. Nach dem ersten zupfte er an seinem Trikot, nein riss. Aber er bewegte sich, rannte, wie Torschützen es tun.

Mario Balotelli, alleine mit seinen Muskeln. (Foto: REUTERS)

Beim zweiten Tor verharrte der erst 21-Jährige, zog sein Trikot aus und spannte so ziemlich alle Muskeln an, die ein Körper ab der Taille aufwärts zu bieten hat. Der Stürmer vom englischen Meister Manchester City hat einen typischen Fitness-Studio-Körper, er hat gut ausgebildete Muskeln in Armen und Bauch.

Aber das war nicht das Beeindruckende an der Szene. Denn Balotelli, der in einem Halbfinale gegen die Deutschen gleich zweimal innerhalb von 16 Minuten getroffen hatte, der ahnen konnte, dass er das Spiel damit entschieden hatte, triumphierte nicht mit hochgerissenen Armen, er lief auch nicht.

Er stand. Er ruhte quasi in jener Bodybuilder-Pose, die "Front Relaxed" genannt wird: Mit Fäusten, die unterhalb des Hüftknochens und ein wenig davor eine Daumenlinie bilden, sich aber nicht berühren. So muss man, das verlangt die Anatomie, die Schultern ein wenig nach vorne bringen, damit sich der gesamte Oberkörper in eine Raute der angespannten Kraft verwandeln kann.

Mit dem Kopf an der Spitze, der Leiste mit den geballten Fäusten am unteren Ende und den Schultern als Außenkanten. So entsteht ein absolut symmetrische Rhomben-Pose, deren senkrecht aufeinander stehenden Diagonalen sich ungefähr in Höhe des Solar Plexus halbieren.

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Natürlich ist diese Denkmalpose schon deshalb so archaisch, weil neben ihr der stets schuljungenhaft errötete, deutsche Spieler Lahm aussieht, als würde er einen Tanz ums goldene Kalb vollführen.

Wie dem auch sei: Diese Pose Balotellis ist außergewöhnlich. Wir haben bei der EM den polnischen Kapitän Jakub Blaszczykowski jubeln gesehen. Ebenso eindrucksvoll, nur ganz anders. Auch er verwandelte sich in eine völlig symmetrische Figur. Allerdings lag er auf den Knien, mit hochgerissenen Armen, die Zeigefinger auf einen symbolischen Punkt im Himmel gerichtet. Klar, der religiöse Blaszczykowski widmet jedes Tor seiner verstorbenen Mutter. Seine Pose der knienden Dankbarkeit ist lebendig, ist Sixtinische Kapelle. Ist Renaissance.

Die Erstarrung Balotellis ist Urzeit. Wenn man die Kunst- und Filmhistorie durchforstet, findet man den scheinbar freudlosen Sieger, den einsamen Überraschungssieger des Öfteren. Der "David" Michelangelos, diese berühmte Skulptur aus der Galleria dell' Accademia in Florenz, zeigt eine entspannte Gestalt in Kontrapost-Stellung, die eine Steinschleuder eher nachlässig über die linke Schulter geworfen hat. Lediglich die herunterhängende rechte Hand, die den unsichtbaren Stein umschlossen hält, zeugt von bevorstehendem Kampf. Sie ist, das zeigen die hervortretenden Adern, angespannt.

Die Szene nach dem Kampf Davids gegen Goliath hat Michelangelo später in der Skulptur "Genius des Sieges" zwischen 1521 und 1534 umgesetzt. Hier sieht man einen jungen Mann, der mit angewinkeltem linken Bein über einem alten bärtigen Mann unter ihm steht. Er hat ihn besiegt. Im Gegensatz zu den Prinzipien von Ruhe, Harmonie und Proportion, die den berühmteren David auszeichnen, sehen wir hier Überlängung der Figur und Torsion (Drehung), aus der Spannung entsteht. Eine erste figura serpentinata. Beide Davids sind lebendig. Balotellis Raute ist es nicht.

Es gibt weitere Sieger mit hängenden Armen: Den da schon tödlich verwundeten "Gladiator" des Ridley Scott etwa, der seinen letzten Kampf gewonnen hat. Es gibt Clint Eastwood in "Eine Handvoll Dollars", der vier Männer erschossen hat und sich gebeugt wegdreht. Und es gibt die Spartaner aus dem Film "300", der Umsetzung eines Comic.

Das bringt uns auf die Spur: Balotellis Pose ist eher Comic und Computerspiel entnommen als dem lebendigen Leben. Sie ist Ausdruck eines virtuellen Raumes. Und so schien der Spieler auch. Entfernt vom Hier und Jetzt, in dem er zwei Tore geschossen hat. Er ist eigentlich alleine. Alleine mit seinen Muskeln. Alleine mit seinem traurigen Triumph der Erstarrung. Er hat hervorragend gespielt, keine Frage. Aber sein Sieg, sein ganz persönlicher Sieg scheint seelenlos zu sein wie eine Salzsäule.

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