Porträt:Verkaufte Stille

Der Tiroler Dichter Hans Haid schreibt Lyrik im Ötztaler Dialekt und ist ein leidenschaftlicher Kritiker der Landschaftszerstörung durch den Skitourismus. Ein Besuch beim kämpferischen Alpen-Flüsterer.

Von Helmut Schödel

Der Mann ist Ende siebzig, schlank, Brille, Hosenträger halten die Hose hoch, und sein Lächeln hat nichts Geläufiges. Er ist eher ein Grübler, einer, der sich seinen Pessimismus erarbeitet hat. Seine Arbeit liebt er trotzdem, ein Idealist, der nie aufs Geld geschaut hat. In früheren Zeiten wäre er vielleicht Dorfschullehrer in einem Gebirgsort gewesen, wo er den Bauernkindern die Schrift beigebracht und ihnen von den Sagen und Mythen der Bergwelt erzählt hätte.

Jetzt steht der Mann an einem heißen Tag an einer Zugstation, die "Ötztal Bahnhof" heißt, der erste große Halt auch für schnelle Züge, die von Innsbruck in Richtung Zürich fahren. Er wird seinen Besucher durch eine traurige Unterführung auf die andere Seite des Bahnhofs bringen und an einem lustlosen Kinderspielplatz vorbei in seine Reihenhaussiedlung. Die Häuser tragen Blumennamen, seines heißt "Jasmin 1". Hier wohnt er, Hans Haid, der Volkskundler, Schriftsteller und Tourismuskritiker, 1938 in Längenfeld im Ötztal geboren. Hans Haid hat in Volkskunde promoviert, und man hat ihm den Ehrentitel "Professor" verliehen.

Sitzt man mit ihm im Wohnzimmer von Jasmin 1, ist er schon auch stolz auf seine Titel und Preise, zum Beispiel den Otto-Grünmandl-Literaturpreis von 2010, aber: Im ersten Stock liegen vor allem Schriften, desgleichen im Keller und weiteren eigens für seine Schriften angemieteten anderen Kellern. Haid ist kein Selbstdarsteller von heute, man hat den Eindruck, man müsse ihn aus Bergen von Zetteln und Dokumenten herauswühlen, die ihm Leidenschaft und Schutz zugleich sind.

Das Ötztal ist nicht unbedingt der lieblichste Platz in den Tiroler Alpen. Eng ist der Lebensraum der Menschen zwischen lauter Dreitausendern, schroff und lebensfeindlich diese Landschaft. Links ein Trumm Berg, rechts ein Trumm Berg und kein Horizont. Das legt sich auf die Seelen der Leute, die sich ihr Leben hier immer hart erkämpfen mussten. Auch Hans Haid wuchs auf einem winzigen Bergbauernhof auf. Schon deshalb und wegen der Dreitausender war es ihm wohl unmöglich, sich groß vorzukommen. Hier hatten die Bergriesen und die Ferner, wie früher die Gletscher hießen, immer das letzte Wort. Bei Narzissmus und Selbstüberschätzung bestens zu empfehlen: das Ötztal.

Haid kommt zu einem Treffen nach Ötz, das ist der Eingang zum Tal, nur fünf Kilometer von "Ötztal Bahnhof" entfernt. Ein Unort, den eine Durchgangsstraße teilt, an der sich Hotels, Cafés, Pizzerien und Geschäfte auffädeln. Eine Pizzeria gehört einem Türken, für den ein Berliner kocht, mit entsprechenden Ergebnissen. Das Zentrum ist das "Posthotel Kassl", ein Vier-Sterne-Haus ohne Roomservice, aber immerhin mit Hallenbad. Im Sommer 1928 verbrachte Robert Musil hier einen Arbeitsurlaub: "Ich verbringe den Sommer in Ötz. Hauptsächlich auf meinem Zimmer im guten alten Posthotel Kassl, nebensächlich auf den Bergen. Denn ich muss leider einen zweibändigen Roman zu Ende führen, der im Frühjahr erscheinen soll und ,Der Mann ohne Eigenschaften' heißt." Das Posthotel ist aus historischen Gründen das erste Haus am Platz, mit renovierten Zirbenholzzimmern und abgewohnten alten Möbeln. Die Küche ist sehr gut, der große Teil des Personals geschäftstüchtig freundlich, aber ein warmes Zuhause auf Zeit für den Sommerfrischler gibt es hier nicht. Man spürt auch hier die Gletscher und Dreitausender, die dem Gast zu Bedenken geben, wer hier eigentlich König ist.

Skifahrer springt über eine Straße in den Kitzbühler Alpen

Einst hatten hier in den Tiroler Alpen die Berge das letzte Wort. Bis die Touristen kamen.

(Foto: Gerd Pfeiffer)

Hans Haid genießt jetzt die Graukassuppe, der Graukas ist eine Spezialität Tirols, und erzählt, dass er mit zehn Jahren seinem Vater gesagt habe, er wolle studieren. Zwei Jahre verbrachte er dann in einem katholischen Internat im Inntal, aber die Eltern konnten nicht mehr zahlen. Er kam dann in einem Kärntner Kloster mit Landwirtschaft und privatem Gymnasium unter, verdiente sich seine Ausbildung mit Kartoffelsetzen und Mostpressen, bis die Schule aufgelöst wurde. In Wien hielt er sich mit Jobs über Wasser und holte unter schwierigsten Umständen seine Matura nach. Da war er schon wesentlich älter als ein normaler Maturant. Während er erzählt, braust draußen der Tourismus vorbei, den er mit glühenden Augen als Apokalypse bezeichnet. Wie zur Illustration kommt ein Gewittersturm auf und im Lokal geht für zehn Minuten das Licht aus.

Der Prolog zu Hans Haids letztem Roman "Die Landgeherin" beginnt mit einem Zitat: "Die Erde erstarrt, verwittert. Johlend rücken die Propheten vor: Unglück, Unglück! Für Reue ist es zu spät . . . Wildbäche treten aus den Betten, wie Steine fliegen die Früchte durch die Luft, schäumend vor Wut zerren die Hunde an ihren Ketten . . . und die Scheunen brennen." Das ist ein Zitat von Maurice Chappaz, Haids Lieblingsautor, der im Schweizer Wallis schrieb und 2009 starb. Auch er war ein flammender Gegner der Tourismusindustrie. In seiner Erzählung "Die Zuhälter des ewigen Schnees" heißt es: "Ein Geschäftemacher hat begriffen. Hat 1 000 weiße Gipfel zur Prostitution verdammt. Der Tourismus summt seine Vespern, ein Gehinke von Fälschern. Ich habe die neue Welt heraufkommen sehen: Schufte und Schwächlinge." Chappaz schreibt über den Ausverkauf der alpinen Welt: "Die Stille ist gestern an die Armee verkauft worden . . . Luft, bleibt noch Luft? Doch ja, auf 4000 Metern ein kleines Lager . . . Den Schnee, nehmen sie den Schnee auch? Sie nehmen auch den Schnee." Das ist so recht nach Hans Haids Geschmack, da erkennt er den Mitstreiter.

In seinem Roman "Die Landgeherin" erzählt er von Tiroler Vaganten in der Zeit um 1890. Sie zogen über die Berge und durch die Dörfer, mit Kind und Kegel, gaben sich als Heiler aus, waren Scherenschleifer oder Kesselflicker, tanzten, bettelten oder prostituierten sich. Wenn es an Essen mangelte, kochten sie auch Igel oder sogar Hunde. Beides war für sie eine kulinarische Spezialität, umständehalber fehlte ihnen die Sentimentalität der braven Bürger, sie kämpften täglich ums Überleben, gegen Kälte und Hitze, Hunger und Krankheit. Die Kinder starben ihnen oft schon als Babys, was bei ihnen zum Leben gehörte.

Haid zeigt eine archaische Welt, angeführt von saufenden, polternden und prügelnden Vätern, Vorspiele zur Apokalypse, und im Hintergrund die Welt der Sagen und Mythen, an denen das Ötztal reich ist. Durch diese Schluchten zog kein Krieg durch, es gab keine Zerstörung, hier ist alles bewahrt. Da gibt es noch die Sagen von den weißen Frauen, die Jungfrauen sind und Mütter, aber auch Huren und Hexen. Sie entsprechen den Erwartungen der Bevölkerung, die Guten belohnen sie, die Bösen bestrafen sie. Und sie leben auf und unter den Gletschern, dort in goldenen Städten. Die verschwundenen Städte beziehen sich auf Almsiedlungen, die es vor mehr als 6000 Jahren hier gab. Die Frauen sind die geheimnisvollen Herrinnen der wilden Bergregion.

Ana, Hans Haids Hauptfigur im Roman, die sich von ihrer Landgeherfamilie separiert, auf der Suche nach einer Begegnung mit der Madonna meint nicht Maria, sondern eine der weißen Frauen, der "Saligen", wie man sie nennt, was nicht "Seelige" bedeutet, sondern "Glänzende", "Leuchtende". Sie leben in der "Anderswelt", einem sagenhaften Jenseits - eine Vorstellung die, wie Haid betont, nicht heidnisch sei, sondern vorchristlich.

Das "ganze Christenland" sei fromm und bigott, und die Gletscher seien seine Leichentücher. Schreckliche Plagen stünden bevor, auch für die Unzucht, die Bauern und Hirten mit ihren Tieren treiben. Man bringt diese gewaltigen Texte kaum mit diesem schmächtigen, stets bescheidenen Autor zusammen. Seine Literatur hat mehr mit dem mittelalterlichen Romanschreiben zu tun als mit dem heutigen. Da geht es nicht um Plot und Suspense, da wird ein Weltwissen verkündet. Es ist ein Anschreiben gegen die Flüche, die das Verhalten der Menschen hervorruft. Und man hört dahinter das Gewimmer aus dem Krieg gegen die Natur, den wir angezettelt und heute schon verloren haben. Peter Turrini hat Hans Haid einen "Alpen-Abraham-a-Santa-Clara" genannt.

Porträt: Alpenflüsterer und skeptischer Idealist: Hans Haid.

Alpenflüsterer und skeptischer Idealist: Hans Haid.

(Foto: Peter Freiberger)

Von "Schneezuhältern" und "Gletschermördern" ist die Rede, wenn der Autor in Rage gerät

In Haids Roman "Similaun", das ist ein 3606 Meter hoher Berg, der zu den Ötztaler Alpen gehört, verbinden sich die Mythen und die Grausamkeiten des Lebens, wozu Sodomie, Blutschande und der Missbrauch der Hirtenjungen auf den frauenlosen Almen gehört, zu einer voraufklärerischen Hölle, mit aktuellen Breitseiten gegen den Tourismus, "mit und ohne Pornografie, Almbar, Hüttenpuff, Saisonbock, Schweinigel und angekarrten Huren zur Belustigung der noblen Gäste, mehr noch zum Nutzen der Bosse in den taleigenen Seilbahnen". Von "Schneezuhältern" ist die Rede und von "Gletschermördern". Insgesamt geht es um die Beschwörung einer Endzeit in aller Drastik, wohl weil, wenn die Zeit knapp wird, diplomatische Formulierungen nicht mehr weiterhelfen. Dass Hans Haid sich mit seinen Arbeiten keine Freunde macht, weder im Tal noch in der Politik oder im Lichtjahre von seinem Schaffen entfernten Kulturbetrieb, nimmt er gerne in Kauf.

Seine Lyrik im Ötztaler Dialekt, der inzwischen auch durch Hans Haids Zutun zum immateriellen Weltkulturerbe gezählt wird, eine Art Ur-Tirolerisch, das auch so mancher Tiroler nicht versteht, hinterlässt auch bei Fremden einen geheimnisvollen Klang, sozusagen den Sound der Mythen, wenn man die Texte im Vortrag hört. Man kann die Gedichte eigentlich nicht übersetzen, obwohl Hans Haid in seinem Band "74 Ötztaler Dialektgedichte" genau das versucht hat, zum Beispiel bei dem Gedicht "Ein Dorf im Winter" : "alle hacken/ stumpf/ alle vögel/ gestorben/ alle fenster/ zerrissen/ drinnen/ liegt der schnee// alle flaschen/ leer/ niemand mehr/ rundherum . . ."

Wieder in Ötz im Posthotel Kassl. Der Sturm bleibt diesmal aus, und Haid erinnert noch an Ivan Illich, den radikalen österreichischen Gesellschaftskritiker, der stets provozierte und an unseren "Fortschrittsmythen" kratzte, ein großes Vorbild für den wilden Querdenker Haid. Dann steigt er wieder in den Postbus und fährt zurück zu seinem Haus, um an einem Büchlein über die nationalsozialistische Vergangenheit des Ötztals zu arbeiten, Arbeitstitel: "Das braune Tal".

Stoppt man auf der Heimfahrt noch in Innsbruck, um den Haymon Verlag zu besuchen, der eine dreibändige Ausgabe der Haidschen Schriften plant, ist man angenehm überrascht, dass der Lektor und Programm-Macher Georg Hasibeder auf die Frage: "Warum verlegen Sie Hans Haid?" wie aus der Pistole geschossen antwortet: "Weil er eine der wichtigen Stimmen Tirols ist." Und natürlich der österreichischen Literatur überhaupt. Man kann nur hoffen, dass das von den infrage kommenden Fördergremien endlich auch verstanden worden ist.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: