Porträt:Unantastbar

Porträt: Mikis Theodorakis bei einem Konzert in Hamburg 1971

Mikis Theodorakis bei einem Konzert in Hamburg 1971

(Foto: Heiko Feddersen/imago)

Seine Protestsongs befeuern die Griechen bis heute: Mikis Theodorakis wird neunzig.

Von Reinhard Brembeck und Christiane Schlötzer

Wer sich einmal vom Athener Nationalmuseum quer durch das anarchische Häusermeer dieser immer aufregenden Stadt geschlagen hat, wird mehr als verwundert gewesen sein, plötzlich auf ein Stück hochalpin steil aufragenden Felsen zu stoßen. Das ist der Wolfshügel, der Lykavittos, die höchste Erhebung der Stadt, die im Hochsommer nur schweißtreibend zu erklimmend ist.

Kurz hinter dessen Gipfel aber, wie sollte es in Athen anders sein, findet sich ein Freilufttheater. Nach dem Ende des Obristenregimes, das bis 1974 sieben Jahre lang folternd das Land im Würgegriff gehalten hatte, gab es hier ein denkwürdiges Konzert: Mikis Theodorakis, eines der prominentesten Opfer der Obristen, sang den Gedichtzyklus "Ta Lyrika", den der Dichter Tassos Livaditis für Martin Walsers "Sauspiel" geschrieben hatte.

Der Live-Mitschnitt ist ein Glanzpunkt seiner Diskografie: Brüchig und kurzatmig ist die Stimme, ähnlich wie die von Hanns Eisler, der musikalisch und ideologisch als Vorbild dieses Mikis Theodorakis gelten darf. Aber diese so gefühlvolle wie unsentimentale Stimme klingt auch nach dem heimatlichen Kreta, diesem alten Schmelztiegel der Kulturen. Auch Theodorakis ist immer Synkretist, einer, der recht unbefangen die ihm taugenden Anregungen miteinander verschmilzt.

Da ist allererster Einfluss die griechische Sprache, aus der er die Rhythmen und Klänge seiner Musik destilliert. Wer kein Griechisch kann, wer die von Theodorakis vertonten Texte der Meisterdichter Odysseas Elytis, Giorgos Seferis und Jannis Ritsos nicht kennt, der wird diesem Komponisten gegenüber immer etwas fremdeln und allenfalls den romantischen Folkloristen in ihm sehen, der, stets bemüht um Breitenwirksamkeit, die traditionelle Musik seines Landes mit den Errungenschaften der Filmmusik kurzschloss. Weshalb für viele Menschen nur der Theodorakis des Films "Alexis Sorbas" in Erinnerung ist, der Anthony Quinn zum Sirtaki-Schlurfen brachte.

Seine Musik soll alle Menschen ansprechen - elitäres Gehabe ist ihm verhasst

Diese klischeebehaftete Popularität mag Theodorakis mittlerweile hassen, aber er hat sich trotz seines Musikstudiums in Paris eben nie auf die Moderne eingelassen, anders als seine griechischen Komponistenkollegen Nikos Skalkottas, Iannis Xenakis oder Georges Aperghis, anders auch als die Dichter Seferis oder Elytis, die ohne die französischen Symbolisten undenkbar sind.

Aber der zutiefst poetisch empfindende Theodorakis will eben immer möglichst alle Menschen ansprechen, er hasst deshalb jedes elitäre Gehabe. Das wird auf jeder Seite seiner Autobiografie spürbar, die sich ansonsten so fantastisch liest wie ein Roman des magischen Realisten Gabriel García Márquez. Weshalb Theodorakis auch immer mit dem von ihm lange als alternativlos angesehen Kommunismus recht frei umgehen konnte. In seiner berühmten Vertonung von Pablo Nerudas "Canto General" wird das Lob der Partei spielerisch lakonisch in katholischer Manier überhöht: "Du machtest zum Feind des Ruchlosen mich und zum Wall gegen den Rasenden."

Dieses Pathos findet sich in seinen vielen Opern, Oratorien und Instrumentalstücken, vor allem aber in seinen Liedkompositionen. Theodorakis ist zu allererst ein so politischer wie lyrischer Liedermacher, der mit Bernart de Ventadorn, John Dowland, Franz Schubert, Hanns Eisler, Woody Guthrie und Jacques Brel auf eine stolze Ahnenkette zurückblicken kann.

Kein Wunder, dass seine Protestsongs gerade jetzt wieder en vogue sind. In seinem berühmten, selbst getexteten "Imaste dio" heißt es: "Wir sind zwei, wir sind drei / es hat acht geschlagen / lösch das Licht, die Wärter schlagen / am Abend kommen sie wieder."

Ein anderer berühmter Kreter, Nikos Kazantzakis, der Schöpfer des Sorbas, der im Unfrieden mit der nachtragenden griechischen Kirche starb, liegt in ungeweihter Erde auf den Stadtmauern von Heraklion begraben. Dessen für sich selbst verfasstes lakonisches Epitaph dürfte mittlerweile auch der Leitspruch des an diesem Mittwoch vor 90 Jahren auf Chios geborenen Mikis Theodorakis sein: "Ich hoffe nichts / Ich fürchte nichts / Ich bin frei".

Dem Tod war Theodorakis schon mehrere Male nahe, einst als kommunistischer Widerstandskämpfer während des griechischen Bürgerkrieges. Da wurde er inhaftiert und gefoltert. Dann als Gefangener zu Zeiten der Militärdiktatur, da wurde er wieder gequält, in ein Bergdorf verbannt, dann in ein Lager gesteckt und zwei Mal zum Tod verurteilt. Darauf machten sich Dmitri Schostakowitsch, Leonard Bernstein und Harry Belafonte bei den finsteren Obristen für seine Freilassung stark. Der Politiker und Journalist Jean-Jacques Servan-Schreiber durfte den Verfemten schließlich im April 1970 in seinem Flugzeug mit nach Paris nehmen, wo schon andere prominente Exilanten, wie Melina Mercouri und Costa-Gavras, warteten. Theodorakis verband dann den politischen Kampf mit einer Weltkarriere.

Für die über die halbe Welt verstreuten Griechen wurden seine Konzerte zu einem Fanal der Freiheit. Für diejenigen, die damals gerade erst Griechenland als Sehnsuchtsziel entdeckten, weil es sich dort gastfreundlich und günstig und nach dem Sturz der Diktatur auch politisch korrekt Urlaub machen ließ, wurden Theodorakis-Auftritte zu einem Teil der eigenen Erinnerungskultur. Dabei half gewiss, dass eben die wenigsten die Texte verstanden. Hätten sie es getan, dann hätten sie sich beispielsweise beim Hören der von Theodorakis' vertonten "Mauthausen Cantata" von Iakovos Kambanellis fragen können, wie es sein kann, dass dieser zarte griechische Poet in einem deutschen KZ landete. In einem der Liedtexte von Kambanellis heißt es: "Ihr Mädchen aus Auschwitz, ihr Mädchen aus Dachau, habt ihr meine Liebste nicht gesehen?"

Sein Haus ist schmal - aber beim Aufwachen blickt Theodorakis auf den Parthenon-Tempel

Das letzte Mal hat Theodorakis sein Griechenland im Dezember 2012 verlassen, schon damals warnten die Ärzte vor der Reise nach Wien, wo ausgerechnet sein Requiem im Konzerthaus aufgeführt wurde. Das hatte er einst nach dem Tod des Vaters geschrieben. In Wien ließ sich er sich dann noch mal feiern, von einem begeisterten Publikum und den Musikern auf der Bühne, die ihm mit dieser Hommage auch ein Abschiedsgeschenk machten.

Denn inzwischen kann Theodorakis, von Krankheiten gezeichnet, nicht mehr reisen. Er lebt in einem schmalen Haus, wenige Schritte von der Akropolis entfernt, in dem er schon vor Jahrzehnten mit seiner Frau Myrto eine Bleibe fand, als man sich Wohnungen am Fuß des Götterhügels noch leisten konnte. Vom obersten Stock aus blickt er auf den Parthenon. Schöner könne man in Athen nicht erwachen, hat er einmal gesagt. Den meisten Platz in dem Zimmer unter den Wolken nimmt ein großer Flügel ein, der Deckel stets aufgeschlagen, falls dem Meister noch eine Melodie in den Sinn kommen sollte.

Theodorakis glaubt, dass seine Lieder den Griechen im Ohr und auf der Zunge bleiben werden, auch wenn er einmal nicht mehr ist: "Meine Lieder wenden sich heute an den nachdenklichen, sensiblen und modernen Menschen." Vielen Nicht-Griechen wird dagegen vor allem das Taram-Taram einfallen, wenn sie an Theodorakis denken. Die Anfangstakte des Sirtaki eben, jenes für Sorbas erfundenen Kunsttanzes, millionenfach abgenudelt in Griechen-Kneipen weltweit.

Es waren auch jene zwei Töne, die ihn, der sich heute, wie er sagt, nach dem Tod sehnt, einst gerettet haben. Er kann sie immer noch mit den Fingern schnippen, wie damals, als ihm seine Peiniger zu Junta-Zeiten ans Leben wollten. "Ihr könnt mir gar nichts tun", hat er zu den Schergen gesagt, "denn wenn ihr mich anrührt, wird euer System vernichtet". Weil sich alle Welt "bei diesen zwei Tönen daran erinnern wird, dass ihr mich getötet habt".

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