Porträt eines Skandal-Schauspielers:Deckname: Beckett

Als Thomas Lawinky dem Theaterkritiker hinterher rief: "Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!", nahm vor wenigen Wochen ein unvergleichlicher Skandal seinen Gang. Nach der Affäre spricht der Schauspieler nun erstmals über seine Attacke - und seine frühere Stasi-Tätigkeit.

Christine Dössel

Es war ein Huhn, kein Schwan. Damit fängt es schon mal an. Die Schauspieler hatten es auf den Namen Ingo getauft: ein ausgestopftes, selbst gebasteltes Requisitenhuhn. Es wurde während der Frankfurter Premiere von Ionescos "Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes" von einer Darstellerin "geboren" und einem Zuschauer in den Schoß gelegt. Man müsste um diesen Vogel nicht viel Federlesens machen, würde er nicht sehr schön zeigen, wie unterschiedlich Wahrnehmung und wie schnell Legendenbildung funktioniert. Der empörte Zuschauer nämlich, dem das "Kind" anvertraut wurde, war der Kritiker Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem das Theater an diesem Abend in Gestalt des Schauspielers Thomas Lawinky noch auf ganz andere Weise zu nahe kam, so dass er hinterher in seinem aufgeregten FAZ-Erlebnisbericht "Angriff auf einen Kritiker" aus dem armen Spielzeughuhn kurzerhand einen "toten Schwan" machte und, wie es der Delinquent Lawinky formuliert, "aus einer Mücke einen Elefanten".

Porträt eines Skandal-Schauspielers: "Wenn es politisch Sinn machen würde, würd' ich mich sofort vor dem Haupteingang der FAZ erschießen."

"Wenn es politisch Sinn machen würde, würd' ich mich sofort vor dem Haupteingang der FAZ erschießen."

(Foto: Foto: dpa)

Der "tote Schwan", der ein Stoffhuhn war - den aber viele, etwa die BBC in London, für einen echten Schwan hielten, womöglich verendet am Vogelgrippevirus -, ist inzwischen fast genauso berühmt wie der Spiralblock, den der Schauspieler Lawinky an jenem Abend dem Kritiker Stadelmaier kurzzeitig aus den Händen riss, um mit frechen Worten darin zu blättern. Ein Akt, den Stadelmaier als "eine Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit ", mehr noch: als einen Angriff auf die "Freiheit der Presse" empfand.

Als Lawinky dem entrüstet von dannen ziehenden Kritiker auch noch hinterher rief: "Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!", nahm der Skandal seinen Gang: Die FAZ drohte mit einer Strafanzeige. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, die anderntags gleich von der Zeitung alarmiert wurde, reagierte "mit Entsetzen" auf den "unentschuldbaren Vorfall" und forderte die sofortige Entlassung des Schauspielers. Die schwer unter Druck geratene Intendantin Elisabeth Schweeger kam der Forderung noch am selben Tag nach, dankbar, dass Lawinky - Gast im Ensemble - von selbst die "Trennung" anbot, so dass man diese als "einvernehmlich" ausgegeben konnte. Die Inszenierung des "Massakerspiels" wurde zwar nicht abgesetzt, darf nach Intervention des Theaterverlags jedoch nicht mehr unter dem Originaltitel laufen. Das Stück heißt jetzt "Being Lawinky". Schauspielerkollegen von anderen Bühnen übernehmen Lawinkys Part.

Deckname: Beckett

Was für ein Aufruhr, mein lieber Schwan! Die Spiralblock-Affäre erregte europaweit Aufmerksamkeit und hat schon jetzt ihren sicheren Platz in der Geschichte der Bühnenskandale. Bild und Spiegel empörten sich über das "Ekeltheater", das brave Bürger in Angst und Schrecken versetze und aus den Schauspielhäusern vertreibe. Die Feuilletons debattieren, und die Theaterszene übt sich in Kollateralschadensbegrenzung.

Thomas Lawinky, der böse Bube, ist jetzt zwar seinen Job los, dafür aber ein bekannter Mann. Man muss nur mal seinen Namen googeln: 10100 Treffer. Erfreut scheint er nicht gerade darüber zu sein. "Das Ganze kam wie eine Tsunami-Welle über mich", sagt der Schauspieler genervt. "Ich will durch Leistung auffallen, nicht durch so eine aufgebauschte Scheiße." In der heißen Phase des so genannten Skandals - von einer "absurden Farce" spricht Lawinky - habe er täglich rund 150 Anrufe erhalten: Solidaritätsbekundungen, Fernseh- und Interviewanfragen, selbst die Washington Times war dran. Lawinky beschloss, das Maul zu halten: "Schön brav die Füße untern Tisch. Ich gelte sowieso schon als Rowdy. Jetzt bloß kein Gegenangriff, sonst werd' ich vollends zum Proll!"

Inzwischen hat sich der Schauspieler eines anderen besonnen. Er will jetzt auspacken, eine Beichte ablegen, seine Geschichte erzählen, die nicht zuletzt auch eine Geschichte der DDR ist: Being Lawinky. Es ist eine Verrätergeschichte, eine Opfer- und Tätergeschichte, aber auch der Versuch einer künstlerischen Selbstdefinition. "Ich bin Punk", sagt Lawinky, "ich habe keine Angst. Wenn es politisch Sinn machen würde, würd' ich mich sofort vor dem Haupteingang der FAZ erschießen." Als er am Tag nach der skandalträchtigen Premiere in die Krisensitzung des Frankfurter Schauspiels beordert wurde, habe ihn schlagartig seine Vergangenheit eingeholt. "Ich habe sofort begriffen, was los ist", sagt Lawinky. Situationen wie diese kannte er aus der DDR. "Elisabeth, hast du kalte Füße?", habe er zur Intendantin gesagt und dann "alle Schuld auf mich genommen".

Gegen seine eigene Überzeugung zu handeln, "die Schuld auf sich zu nehmen", wie Lawinky das nennt, und damit auch "die Schmach" - das kann er, das hat er schon zweimal ins seinem Leben gemacht: das erste Mal mit 14, als er in Magdeburg "wegen Rowdytums" vor Gericht stand und seine wahren Beweggründe, den politischen Frust, verschwieg. Lawinky, von dem es in der Urteilsbegründung heißt, sein Verhalten sei "nicht immer gesellschaftsgemäß", hatte im November 1978 mit ein paar Kumpels den umstrittenen Defa-Film "Sabine Wulff" gesehen, in dem die Insassin eines so genannten Jugendwerkhofs am Ende zu einer sozialistischen Persönlichkeit reift.

Damals, sagt Lawinky, habe er zum ersten Mal die Verlogenheit der DDR-Propaganda kapiert: "dass die sogar über die Leinwand lügen." Da sei er durchgedreht, habe mit seinen Freunden Schaufenster eingeschlagen und auf dem Friedhof randaliert. Vor Gericht aber log er: Nein, nicht aus Zorn über den Film, sondern aus purer "Lust an Zerstörung" sei er ausfällig geworden. Lawinky, für den seine erste Knasterfahrung noch immer "ein Trauma" ist - er war nach einem kindischen Fluchtversuch mit 14 in einem Durchgangsheim für Schwererziehbare gelandet -, hatte Angst, politisch zu argumentieren. Für die Sachbeschädigung gab es neun Monate auf Bewährung.

Das zweite Mal, dass er sich selbst verriet und, wie er sagt, seine "Seele verkaufte", war während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee in der "Flugabwehrraketeneinheit 131". Nachdem Lawinky von ein paar Leuten gezielt als Stasischwein verleumdet worden war (ein beliebter Trick zur Verunsicherung), drehte er den Spieß um und bot der Stasi tatsächlich seine Dienste an: "die schlimmste Lüge meines Lebens".Als informeller Mitarbeiter unter dem Decknamen "Beckett" fing der Soldat Lawinky Briefe ab, schrieb Berichte, forschte Kameraden aus. Er, der den DDR-Staat nach eigenem Bekunden "hasste" und schon mehrmals mit ihm in Konflikt geraten war, arbeitete ihm nun - "lass es Feigheit sein, Angst, Egoismus" - als Spitzel zu. Lieber wollte er ein paar Dinge unter Kontrolle zu haben, als selber kontrolliert zu werden: "Eine Schande, mit der ich leben muss."

Es ist das erste Mal, dass Lawinky öffentlich darüber spricht. In seinem Gesicht zeichnen sich hektische Flecken ab. Vor Aufregung hat er über Nacht Neurodermitis bekommen, während des Gesprächs kratzt er sich blutig am Kopf. Aber es drängt jetzt heraus aus ihm: "Dieser Schmerz, die Schuld, meine ganze Scheiß-Biografie", all das versuche er "hineinzupacken in die Kunst". Lawinky zitiert einen Satz aus seinem Magdeburger "Macbeth", bei dem ihm manchmal schier der Schädel platze: "Ich ging so tief ins Blut hinein / dass schwerer war zurückzugehn / als weiterwaten und es durchzustehn." Beim Spielen gerate er oft "in Zustände der Verzweiflung", er schenkt sich da nichts. Dass er in der Spiralblock-Affäre als "Täter" dasteht, scheint er fast als Sühne anzunehmen.

Thomas Lawinky, Jahrgang 1964, ist ein bulliger Typ mit der Statur eines Boxers. Grobe Züge, kleine blaue Augen, die Nase eher breit: Sein Gesicht ist das, was man eine Schlägervisage nennt. Wer den Kraftkerl je auf einer Bühne erlebt hat, weiß um seine physische Präsenz und den extremistischen Furor, mit dem er sie einzusetzen pflegt. In Magdeburg, seiner Heimatstadt, gibt er Shakespeares "Macbeth" als wilden Terminator im Schottenrock, reißt sich die Unterhose vom Leib und die Aufführung wie ein Rockstar unter den Nagel: eine Rampensau. Im Fernsehen wird er meistens als Verbrecher besetzt, in Serien wie "Der Alte", "Soko Leipzig" oder "Polizeiruf 110". Gut macht er sich auch als Skinhead oder Neonazi. "Ich habe ein Bad-Boy-Image", sagt Lawinky. "Ich werde allein schon aufgrund meiner Physiognomie als Idiot eingeschätzt."

Lawinky ist zwar Legastheniker und tut sich beim Lesen, vor allem bei Leseproben im Theater, ungeheuer schwer. Ein Idiot aber ist er definitiv nicht. Er scheint das allerdings sich selbst und anderen immer wieder beweisen zu müssen, weshalb er sich im Gespräch gerne in Exkursen über Kunst, Politik, Literatur und Philosophie ergeht. Lawinky ist ein beredter Mensch, er kann das gut. Angst vor ihm braucht man auch nicht zu haben. Der vermeintliche Schlägertyp ist ein erstaunlich weicher Mann: offen, verwundbar, sensibel. Äußerlich robust, innerlich ein Seelchen. Bei unserem zweiten Treffen kommt er zwar mit einem blauen Auge, aber dieses Veilchen hat er sich sozusagen selber verpasst: Als Macbeth ohrfeigt sich Lawinky minutenlang selbst, und als er neulich eine Zuschauerin bat, ihm doch bitte auch mal eine zu scheuern, ist der jungen Frau die Hand etwas unglücklich ausgerutscht.

Solche Ausrutscher kommen im Theater von Thomas Lawinky und seinem Stammregisseur Sebastian Hartmann schon mal vor. Denn dieses Theater, das sich Artauds "Theater der Grausamkeit" verpflichtet fühlt, sucht die Irritation, die Reibung, die Konfrontation mit dem Publikum und der Archaik von Gefühlen. "Im schlechtesten Fall machen wir esoterisches Power-Pop-Theater", sagt Lawinky, der schon zu Zeiten, als die Gruppe noch "Wehrtheater Hartmann" hieß, deren härtester Söldner war. Was ihnen vorschwebe, sei eine radikale Form der "Mystifizierung" in einer entzauberten, durchkommerzialisierten Welt. Und am Ende, immer: "Katharsis", "Läuterung durch Schmerz".

Frank Castorf, von dem sie sich ihre Mittel abgeschaut haben, ist für Hartmann & Co "the Godfather of theatre", der große Übervater, als dessen plumpe Epigonen sie oft abgestempelt werden. "Wir sind Castorfs Erben", deklariert Lawinky. "Wir laborieren mit dem Material, das da ist und treiben es weiter. Wir versymbolisieren, sampeln, versimpeln." Das Plakative, Platte, Peinliche, ohne das keine Hartmann-Inszenierung auskommt, diene als Mittel zum Zweck, "um tatsächlich noch echte Gefühle auszulösen" - und sei es Verstörung, Ärger, Wut.

"Ist doch verrückt", ereifert sich Lawinky, "da zappen sich die Leute jeden Tag durch Mord und Totschlag, Titten und Krieg, und im Theater regen sie sich auf. Was sind'n das für Moralitäten, die da erwartet werden?" Da kriege er Aversionen, "schwere Aversionen". Lawinky brennt, wenn er sich solcherart in Rage redet, und man ahnt, wie schnell er auch mal durchbrennen kann. "Wir legen keine Lunten, damit es knallt", verteidigt er ihren Stil, "denn es knallt die ganze Zeit schon, überall!" Das klassisch schöne, dramaturgisch brave Als-ob-Theater sei für ihn obsolet geworden, "ich glaub' das nicht mehr." Da gibt Lawinky lieber den Theater-Terroristen."Anarchistisch-syndikalistisch" nennt er sich.

Das "Aus-der-Rolle-Fallen", das man dem Schauspieler in Frankfurt zum Vorwurf machte, gehört im Hartmann-Theater zur Rolle dazu: "Immer interaktiver Vollkontakt mit dem Publikum!" Dass er einem Kritiker den Block entrissen hat? "Alter Hut, mach' ich seit Jahren. Ist anderswo ein Spaß." Lawinky bringt da ganz andere Dinger. Als in seinem Magdeburger "Macbeth" mehrere junge Leute aufs Klo gingen, folgte er ihnen nach und verlagerte die nächste Szene kurzerhand ins Foyer. Am Hamburger Schauspielhaus, in Handkes "Publikumsbeschimpfung", hat er mal einem Herrn, der durch Zwischenrufe störte, den Mund zugeklebt. "Gut, ging einen Tick zu weit", gibt er zu. Aber er verlange als Schauspieler Aufmerksamkeit und Respekt, "erst recht einem Stadelmaier, als Kritiker ist er schließlich Fachpublikum".

So, wie Lawinky den Tathergang in Frankfurt schildert, habe sich Stadelmaier als Erster "respektlos" verhalten: durch nonverbale Gesten und höhnische Grimassen. Die Schauspieler spielten zum Teil direkt vor, neben und unter den Zuschauern. Als sie das Publikum baten, ihnen an einen anderen Ort der Halle zu folgen, blieb einer sitzen: Stadelmaier. Lawinky, der den Mann nicht kannte, dachte: "Gehste mal hin und gibst ihm ne Sondereinladung." Da habe dieser sofort hysterisch reagiert: "Fassen sie mich nicht an! Lassen Sie mich in Ruhe!" So ging es schon mal los.Später, bei der Geburt des Huhnes, habe der Kritiker geunkt: "Das kommt vom vielen Vögeln!" So habe sich das hochgeschaukelt. Auch Lawinky fühlte sich beleidigt.

"Falls ich Stadelmaier tatsächlich verletzt haben sollte, tut es mir leid", sagt Lawinky. Er hat sich entschuldigt. Aber seine Spielweise bedauern, das könne er nicht: "So bin ich. Ich gehe da weiter als Beuys: dass ich mich selber als Kunstwerk sehe." Es sei ein Spiel mit existentiellem Risiko. Was andere als provokativ empfinden, ist Lawinkys Art, auf die Welt und sich selbst zu reagieren: "Zerstörung durch Verzweiflung". "Dann bin ich eben kein Schauspieler im Sinne Stadelmaiers". Aber dass der Kritiker gleich mit der Keule kommen musste, "um mich wie eine Laus zu erschlagen", das findet er unverhältnismäßig. Lawinky sagt: "Wenn er sich als Spatz sieht, auf den das Theater mit Kanonen schießt, dann bin ich in einer verifizierbaren Welt, in der weiße Schwäne sterben, ein schwarzer - und zwar ein wilder und abenteuerlicher."

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