Popwissenschaft:Sand im Wohnzimmer

Jimi Hendrix

Juni 1967, Jimi Hendrix beim Monterey Pop Festival. Im Beitrag des Sammelbandes über Jimi Hendrix herrscht demonstrative Farbenblindheit: Dass Hendrix Afroamerikaner war, wird nicht erwähnt.

(Foto: Bruce Fleming/AP Images)

Dösen Sie schön? Ein Buch über das eigentlich doch sehr aufregende Pop-Jahr 1967 offenbart Lücken und blinde Flecken - auch so geht Domestizierung durch Aneignung.

Von Jan Kedves

Akademisch über Pop zu schreiben galt lange als Widerspruch. Es kann auch heute noch einer sein. Nimmt man den Sammelband "Younger Than Yesterday - 1967 als Schaltjahr des Pop" zur Hand, sollte man die darin thematisierte Musik sehr, sehr laut aufdrehen, um die sedierende Wirkung der Lektüre auszugleichen.

Gewiss, wissenschaftliche Pop-Exegese muss aus der benutzten Sprache nicht unbedingt selbst Pop machen, so wie es im deutschen Sprachraum Diedrich Diederichsen oder Rainald Goetz getan haben. An sich ist es eine schöne Idee, jedem einzelnen Pop-Jahr sein eigenes Buch zu widmen und damit Jon Savages jüngstem Werk "1966: The Year The Decade Exploded" - es behandelt die Teenage-Kultur, LSD, die Beach Boys, Andy Warhol, die Effekte von Motown in Großbritannien, die Schwulenbewegung, im Grunde eben das große Ganze - ein paar deutsche Aufsätze über das Folgejahr zur Seite zu stellen. Aber wenn schon der erste Satz lautet: "Am 1. Juni 1967 erscheint das achte Album der Beatles", und der zweite Satz "Sgt. Pepper's" zitiert: "It was twenty years ago today", dann weiß man: Die Autoren haben es sehr mit Zahlen, aber nicht so mit spannendem Formulieren.

Zur höchsten Kunstform des Pop entwickelte sich das Format Album im Konzept-Album

Das ist ein Problem für dieses Buch, schlicht deswegen, weil 1967 sicher kein dröges Jahr war. In England nahm David Jones seine ersten Songs als David Bowie auf, in den USA sprachen sich Berichte über die Acid-Tests in Haight-Ashbury so weit herum, dass schon die ersten Bustouren für Touristen durch das Viertel angeboten wurden, was die begafften Hippies und LSD-Jünger nervte; Brian Wilson ließ sich für seine Arbeit am legendär unvollendeten Beach-Boys-Magnum-Opus "Smile" Sand ins Wohnzimmer kippen, für das echte Strandfeeling beim Komponieren am Flügel. All dies wird im Buch auch erwähnt, und dann werden ihrer chronologischen Reihenfolge nach Songs, Texte und Covermotive analysiert, und damit soll dann herausgearbeitet werden, wie im Jahr 1967 das Format-Album - zuvor eher eine schlichte Ansammlung von Hit-Singles - zur höchsten Kunstform des Pop überhaupt wurde: zum Konzeptalbum!

Aber die Sprache! Jargon ist gar kein Ausdruck. In dem Aufsatz über das Debütalbum der Grateful Dead entwickeln die Songs "einen musikalisch-performativen Sog, der die Zuhörer unweigerlich erfasst", natürlich werden sehr viele Erwartungen "unterlaufen", und die Musiker sind "musikalisch-gegenkulturelle Befreier", die "angesichts dunkler Zeiten mit psychedelischen Mitteln etwas Sonne zu bringen versprechen". Uff! Im Beitrag zu Bob Dylans "John Wesley Harding" heißt es: "Der raunende Beschwörer des Imperfekts erkennt im scheinbar Vergangenen in schockierender Plötzlichkeit die Wahrheit über seine eigene Existenz."

Man möchte sofort zu den wenigen (drei von zwölf) Beiträgen vorblättern, die es besser hinbekommen. Zwei von ihnen stammen von Beitragenden, die sich normalerweise außerhalb des akademischen Betriebs betätigen. Frank Witzel verbindet in seinem schönen Text über das "Sgt. Pepper"-Album der Beatles autobiografische Erinnerungen an die Bedrohlichkeit, die einst von dieser Musik ausging, mit der Beschreibung eines Konzertbesuchs im Rahmen des 47. Deutschen Jazzfestivals im vergangenen Jahr: Die HR-Bigband interpretiert in der Alten Oper zu Frankfurt "Sgt. Peppers" als "blutleeren Jazz-Vampir", mithilfe eines, so Witzel, "bis zur eigenen Parodie erstarrten Jazz-Begriffs". Domestizierung durch Aneignung.

Die Journalistin Anja Rützel beginnt ihren Text über das Byrds -Album "Younger Than Yesterday" auf gekrümmter Bahn: "Wenn ich einmal jemanden erschlage, werde ich es mit meinem Byrds-Buch tun" - eine "insinuatio", wie Rützel einige Seiten weiter aufklärt, also ein "psychologischer Trick", mit dem das eher "leidlich interessierte" Publikum doch noch gewonnen wird. Die Byrds wandten diesen Trick selbst auf ihrem Album an, indem sie den Hörer im ersten Stück gleich von der Seite ankumpelten: "So you want to be a Rock 'n' Roll Star ..."

Fast möchte man dieses Buch doch noch versöhnt zur Seite legen. Dann aber fällt einem auf, dass auf den gelesenen 250 Seiten, zwischen den Beatles und Byrds und Beach Boys, zwischen den Doors und Dylan und all den anderen, gerade mal zwei nicht-weiße Musiker behandelt werden: Jimi Hendrix (mit dem Debütalbum seiner Experience) und Aretha Franklin (mit ihrem Album "I Never Loved A Man The Way I Loved You").

Aus dem zuvor stark schwarz geprägten Rock'n'Roll entwickelte sich eine sehr weiße Sache: Rock

Dabei war 1967 im schwarzen Amerika auch sonst ein hochinteressantes Pop-Jahr: Die Jackson 5 gewannen die legendäre Amateurnacht im Apollo Theatre in Harlem, woraufhin Gladys Knight sie bei Motown empfahl, Michael Jackson war da gerade mal neun Jahre alt; James Brown nahm seine Single "Cold Sweat" auf, die heute als Blaupause des Funk gilt, weil Brown in ihr erstmals das zwölftaktige Standard-Blues-Schema hinter sich ließ, sämtliche Instrumente perkussiv einsetzte und den Schlagzeuger ein Solo trommeln ließ - die sogenannten Breaks wurden später elementar für Hip-Hop, in gesampelter Form.

Um all dies geht es in "Younger Than Yesterday - 1967 als Schaltjahr des Pop" also nicht, und vielleicht stößt dies auch deswegen so auf, weil im Beitrag zu Jimi Hendrix an keiner einzigen Stelle erwähnt wird, dass Hendrix Afroamerikaner war.

Eine demonstrative Farbenblindheit, die sich möglicherweise antirassistisch dünkt, aber doch grob fahrlässig ist. Schließlich waren, wie der amerikanische Autor Jack Hamilton im vergangenen Jahr in seinem viel beachteten Buch "Just Around Midnight - Rock and Roll and The Racial Imagination" in den Blick genommen hat, die Sechzigerjahre das Jahrzehnt, in dem sich aus dem zuvor stark schwarz geprägten Rock 'n' Roll via einer seltsamen Re-Segregation eine sehr weiße Sache entwickelte: Rock. Mit dem Ergebnis, dass Hendrix quasi als Exot dastand. Fragen der kulturellen Aneignung oder Enteignung, oder auch Fragen nach dem Stand der Frau in der Popmusik der Zeit - all diese Diskurse werden in dem Buch nicht mal gestreift.

Die Herausgeber Gerhard Kaiser, Christoph Jürgensen und Antonius Weixler waren umsichtig genug, in ihrem Vorwort einen Spoiler Alert einzubauen: Freilich sei mit ihrer "Auswahl die Popgeschichte des Jahres 1967 nicht erschöpfend erzählt", schreiben sie, und über die Auswahl könne "man gewiss stundenlang diskutieren". Ja, man müsste es sogar.

Antonius Weixler, Gerhard Kaiser, Christoph Jürgensen (Hrsg.): Younger Than Yesterday. 1967 als Schaltjahr des Pop. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 256 Seiten, 24 Euro.

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