Popkolumne:Hitzig und witzig

Die Popereignisse der Woche, normalerweise. Heute die Antwort auf die Frage, was das Popjahr 2017 brachte.

Von Jens-Christian Rabe

kendrick lamar

Wenn das Jahr in seine letzten Wochen geht, erscheint kaum noch neue Musik, dafür aber gibt es endlich wieder Bestenlisten von allem und jedem im Pop. Und wieder sind sie so notorisch apodiktisch und ungerecht, wie es sich gehört. Ganz weit oben steht bislang fast überall das regierende Rap-Genie Kendrick Lamar mit "DAMN". Es ist das Album, auf das sich, wie es scheint, in diesem Jahr die meisten Popisten von Pitchfork bis zur Spex einigen können. Und natürlich ist er wieder mal brillant, nur eben leider doch auch einen Hauch nicht ganz so brillant wie einst der Vorgänger "To Pimp A Butterfly". Also nichts für ungut, aber noch besser war in diesem Jahr zum Beispiel das neue, titellose Album der Dirty Projectors, des Avantgarde-Pop-Projekts des Indiepop-Tüftlers David Longstreth, dem darauf das eigentlich Unvorstellbare gelang: die verrückt unangestrengte Vermählung von R'n'B und Indie-Pop.

story of oj

Und weil's gerade so schön apodiktisch wird, gleich noch ein paar finale Urteile: Der Hip-Hop-Song des Jahres war Jay-Zs "The Story of O.J.", der beste beinahe untergegangene Mainstreampop-Song Lordes "Green Light", der unglaublichste deutschsprachige Rap "Blumé" von Yung Hurn, der klügste Song "Pure Comedy" von Father John Misty, der federleichteste "Bungalow" von Bilderbuch und der tollste überhaupt "New York" von St.

Vincent. Der 48-jährige amerikanische Produzent und Rapper Sean John Combs wiederum legte die Selbsttaufe des Jahres hin. Der Mann, der ja mittlerweile nicht nur ein steinreicher Unternehmer ist, sondern der Welt im Jahr 2001 auch noch den unsterblichen Stolperfunk-Monstersong "Bad Boy For Life" schenkte, hieß im Laufe der Jahre schon Diddy, P. Diddy, Sean John, Puff Daddy, Puffy oder Swag. In diesem Jahr hat er sich ein weiteres Mal einen neuen Namen gegeben. Er heißt jetzt "Brother Love". Und alle anderen dürfen jetzt eine Weile schön sehen, wie sie mit der guten alten Pop-Aufgabe zurechtkommen, die Sache exakt so sehr für vollen Ernst zu nehmen wie für einen super Witz. Hach. Der Pop und der böse Junge namens Bruder Liebe.

shape of you

Kein Pop-Jahr ist komplett ohne einen neuen Superlativ. Den diesjährigen lieferten der puerto-ricanische Sänger und Komponist Luis Alfonso Rodríguez López-Cepero alias Luis Fonsi und sein Freund und Rapper Ramón Luis Ayala Rodríguez alias Daddy Yankee. Ihr Latin-Pop-Hit "Despacito" avancierte im Juli mit 4,6 Milliarden - yep, Milliarden - Abrufen zum bislang meistgestreamten Song. Mit knapp 4,4 Milliarden Abrufen hielt den Rekord bis dahin der 2015 erschienene Song "Sorry" von Justin Bieber, ohne den allerdings auch "Des-pacito" wohl kaum so erfolgreich hätte sein können: Auf einer sehr erfolgreichen Remix-Version des Songs singt, genau, Justin Bieber mit. Der auf der populärsten Streaming-Plattform Spotify meistgestreamte Künstler des Jahres war wiederum der britische Sänger, Songwriter und Gitarrist Ed Sheeran, der entsprechend auf ungefähr jedem anderen Star-Album des Jahres einen Gastauftritt hatte, weil - große, alte Popregel - eben nichts erfolgversprechender ist als, richtig, Erfolg. Seine eigenen Songs wurden von den etwa 140 Millionen Spotify-Nutzern insgesamt mehr als 6,3 Milliarden Mal gehört, sein größter Hit "Shape Of You" allein 1,4 Milliarden Mal. Übrigens tauchten unter den ersten fünf der meistgestreamten Künstler der Plattform keine weiblichen Popstars auf. Auf Ed Sheeran folgen Drake, The Weeknd, Kendrick Lamar und die Chainsmokers. Das mit Abstand meistverkaufte Album des Jahres gelang mit "Reputation" am Ende dennoch der amerikanischen Sängerin Taylor Swift. Leider war kein Song darauf, der wie ihr 2014 veröffentlichter Hit "Shake It Off" oder Pharrell Williams' "Happy" das Unmögliche schaffte, also ein Massenerfolg zu sein und wirklich gute Musik. Am ehesten glückte das in diesem Jahr noch Ed Sheeran mit "Shape Of You".

Und die gute Nachricht zum Schluss? Das neue Buch von Simon Reynolds, der in seinem Essay "Retromania" 2011 die bis heute wirkmächtigste Analyse der Pop-Gegenwart lieferte, ist endlich auch auf Deutsch erschienen: "Glam - Glitter Rock und Art Pop von den Siebzigern bis ins 21. Jahrhundert". Es ist, wie bei Reynolds üblich, eine fast absurd gut informierte, 640-seitige Materialschlacht geworden, die doch immer wieder über sich selbst hinaus auf den Punkt findet. Das letzte Wort dieser Kolumne sei ihm entnommen: "Die aus Glam abgeleitete Vorstellung davon, was Pop ist und sein sollte - außerirdisch, sensationalistisch, hitzig, witzig, ein Ort, an dem das Erhabene und das Lächerliche nicht auseinanderzuhalten sind -, hat mich nie wieder verlassen."

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