Pop:Selbst der Staub sinkt würdevoll zu Boden

People enjoy the concert by singer Sampha Sisay during the concert held on the thrid day of the Prim

Ein bunt gemischtes Publikum beim diesjährigen Primavera Festival: Schaulustige beim Auftritt des Sängers Sampha Sisay

(Foto: imago/Agencia EFE)

Wie muss gute Popmusik sein? Die beste Antwort darauf gibt das Primavera-Sound-Festival, das von alten Helden bis Hymnen alles bietet.

Von Jens-Christian Rabe, Barcelona

Für einen halbwegs gültigen Eindruck davon, wie es um den ambitionierten zeitgenössischen Pop steht, kann man viele Tage erfolglos durchs Internet irren - oder im Juni drei Nächte auf dem Primavera-Sound-Festival in Barcelona verbringen. Vor insgesamt 200 000 Besuchern traten dort Ende der vergangenen Woche mehr als 300 Bands und Popkünstler auf, darunter nicht wenige der besten, einige der ältesten und so viele der derzeit wichtigsten wie auf keinem anderen Festival Europas.

Sie spielten im Parc del Forum in Barcelona, bei 25 Grad, direkt an der Mittelmeerküste. Auf die Meldungen aus Deutschland, wo am Freitag wegen Terrorgefahr das Gelände von "Rock am Ring" geräumt wurde, reagierten die Verantwortlichen in Barcelona unaufgeregt mit intensiveren Einlasskontrollen. Tatsächlich ungemütlich machte es den Besuchern eher die Musik.

Die Dekonstruktion

Wie eklektisch-avantgardistisch und fordernd kann Popmusik für ein großes Publikum eigentlich sein? Lange war die Antwort auf diese Frage eindeutig: eher nicht so. Besser vielleicht sogar: überhaupt nicht. Dann kam Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Erfolg des oft atemraubend abstrakten R 'n' B von amerikanischen Produzenten wie Missy Elliott oder Timbaland, und die Antwort war schon nicht mehr so klar. Und als die zeitgenössischen Hip-Hop- und R 'n' B-Superstars auch noch anfingen, ihren Gesang mit der Tonhöhenkorrektur-Software Autotune roboterhaft flattern zu lassen, gab es eine völlig neue Dimension dessen, was Mainstream-Musik sein kann.

Eigentlich hängt der Mainstream-Musik der ewig schlechte Ruf nach, so eingängig und leicht verdaulich wie möglich konstruiert zu sein. Das allerdings, was inzwischen zu hören ist, hat weniger mit Konstruktion als mit Dekonstruktion zu tun. Auf die Spitze getrieben hat das Prinzip des produktiven Zerlegens zuletzt der Kanadier Justin Vernon alias Bon Iver. Als Sänger und Songwriter gelangen ihm mit seiner betörenden Kopfstimme vor ein paar Jahren einige der schönsten Melodien des Neo-Folk. Die beherrscht er immer noch, aber mindestens ebenso groß scheint inzwischen der Drang zu sein, die schiere Schönheit seiner Ideen mit allerlei elektronischer Manipulation und manchem Bass- und Beatgewitter gleich wieder zu zerstören.

Auf seinem jüngsten Album "22, A Million" kann das anstrengend und frustrierend sein. Beim Primavera-Konzert vor Tausenden Zuschauern auf der riesigen Hauptbühne, das er mit seinen Musikern weitgehend bewegungslos hinter allerlei Instrumenten und Synthie-Gerät verbrachte, entstand dagegen eine Spannung und Wucht, wie sie niemand sonst zu produzieren versteht. Musik zur Zeit. Feierlich und schmerzhaft, zart und hart, hinreißend und abstoßend.

Die Show

Es hat eine Weile gedauert, bis sich die amerikanische Sängerin Solange aus dem Schatten ihrer großen Schwester, die allerdings auch Superstar Beyoncé ist, befreien konnte. Mit ihrem im vergangenen Jahr erschienenen brillanten Neo-Soul-Album "A Seat At The Table" ist es ihr gelungen. Es war ein Manifest des Neofeminismus und der schwarzen Selbstermächtigung. Für die Single "Cranes In the Sky" gab's einen Grammy.

Nur auf der großen Bühne konnte man sich diese Musik nicht vorstellen. Stecken nicht in minimalistischen Songs wie "Don't Touch My Hair" oder "F. U. B. U." viel zu viel fragile Nachdenklichkeit, viel zu viel stiller Trotz und cooler Stolz? Geht das auf einer große Bühne nicht erbarmungslos unter? Nein, ging es nicht! Überhaupt nicht. Es wurde ein Ereignis, mit elegant angetäuschten Choreografien voll graziler Würde, stillem Trotz und coolem Stolz. Hinterher, als die Masse längst weiterzog, schien es, als sinke sogar der Staub vor der Bühne so würdevoll zu Boden wie nie zuvor.

Der Bass

Der Bassdruck, den Verstärker an modernen Großbühnen erzeugen können, wenn es bei Hip-Hop, R 'n' B oder elektronischer Musik nötig ist, lässt einem nicht mehr nur das Trommelfell flattern. Weniger als eine allein akustische Erfahrung ist die Bass-Spur längst eher eine Folge seismischer Erschütterungen, als ob ein Kinomonster nach einem gewaltigen Sprung direkt neben einem landet. Und zwar immer und immer wieder. Erbeben im Takt.

Von der reizendsten Rampensau bis zu Hymnen im richtigen Moment

Der Exzess

Als schlampiger Schlurf mit strubbeligen Haaren und deutlich über die Hüfte hochgezogener Hose mit reingestecktem T-Shirt auf die Bühne zu kommen, das ist eine Sache. Dann mit größtem Vergnügen klugen, leichfüßig-melodiösen Indie-Pop grandios dahinzudengeln, ist eine weitere. Den Auftritt vor mindestens 15 000 Menschen aber nur noch mit einer zwischen die Pobacken zum String-Tanga geklemmten Unterhose bekleidet zu verlassen, das ist etwas völlig anderes. Der kanadische Sänger, Songwriter und Gitarrist Mac DeMarco bringt das alles zusammen fertig und dürfte damit die reizendste unwahrscheinliche Rampensau sein, die der Pop gerade zu bieten hat.

Die Zumutung

Die Death Grips aus Kalifornien gelten als experimentelle Hip-Hop-Band. Das ist stark untertrieben. Wenn man der Sache einen Namen geben will, trifft es "Industrial Hip-Hop" besser. Was Keyborder Andy Morin, Schlagzeuger Zach Hill und Rapper Stefan Burnett alias MC Ride bei ihrem einstündigen Auftritt lieferten, war eine Trommelfellattacke mit dem Dampfstrahler, während sich ein Presslufthammer in Zeitlupe den Magen von innen vornahm, ein Sperrfeuer aus Körpertreffern mit tonnenschweren synkopierten Beats. Kaum auszuhalten, aber sich zu entziehen, war noch schwieriger.

Es gibt Menschen, die deshalb die Death Grips für die erste wirklich wichtige Band des 21. Jahrhunderts halten. In dieser Nacht fiel einem wenigstens für eine Stunde kein anderer Kandidat ein. Man kam nicht einmal auf den Gedanken, überhaupt zu denken. Eine Passion, wie man sie im Metal erleben kann, nur ohne dessen düstere Kulthaftigkeit. Die Death Grips sind brachial und kalt. Weniger eine Band, mehr ein Projekt zur Erforschung der Grenze zwischen experimenteller Musik und Menschenversuch.

Der Kitsch

In einen rotgelben Sonnenuntergang am Mittelmeer entspannten Seventies-Rock hineinplätschern zu lassen, wie es am Freitag offenbar der Auftrag der amerikanischen Band Whitney war, ist eine Frechheit. Reiner Kitsch. Polaroid-Filter-Musik. Aber was sollte man machen? Die elegischen Trompeten-Einlagen, das fein verpatschte Schlagzeug, der leicht angejaulte Gesang, ach. Pop ist die Kunst, im richtigen Moment das Falsche zu tun.

Die Vorfahren

Kein Pop-Festival, dessen Kuratoren etwas auf sich halten, kommt ohne Auftritte alter Helden aus. Und wie sollte es anders sein? Erst vor ein paar Monaten ist Chuck Berry gestorben, und Paul McCartney veröffentlicht noch immer Platten. In der Literatur wäre das so, als ob Shakespeare gerade erst tot ist und Goethe noch schriebe.

Auf dem Primavera führten in diesem Jahr die Zombies ihr einst geflopptes, heute jedoch als wegweisend gefeiertes Konzept-Album "Odessey and Oracle" aus dem Jahr 1968 auf, am einzigen überdachten und bestuhlten Ort des Festivals; Van Morrison croonte im Glitzernadelstreifenanzug mit Hut und Pilotenbrille grandios wie eh und je; die ewige Disco-Schamanin Grace Jones bewies, dass 69 altersmäßig das neue 39 ist; die 1976 gegründeten The Damned waren da, die Paten des melodiösen Punkrock. Samt Originalsänger Dave Vanian im klassischen schwarzen Bela-Lugosi-Vampir-Look und Gitarrist Raymond Burns alias Captain Sensible. Captain Sensible! Für einen Punkmusiker ist das auch 2017 noch ein unschlagbarer Name.

Allesamt machten sie ihre Sache wirklich ordentlich. Und doch sind unisono grölende alte Herren in Totenkopf-Leggings die Art von Zeichenschauer, der nirgendwo mehr hinführt. Außer zu einer verflixt nüchternen Interpretation des alten Punk-Slogans "No Future". Lieber die alten Aufnahmen besorgen und auf Youtube Videos aus der großen Zeit ansehen. Einerseits. Andererseits ist Pop natürlich auch die Kunst, im falschen Moment das Falsche zu tun.

Die Hymnen

Oder im richtigen das Richtige. Wie Arcade Fire. Die Band, deren neues Album "Everything Now" in ein paar Wochen erscheint, spielt immer noch die größten Indie-Pop-Hymnen. 25 000 Menschen sangen Samstagnacht gerade "The Suburbs", als sich die Nachricht vom Anschlag in London verbreitete. Der Song handelt von der bittersüßen Sehnsucht, Zeit verlieren zu können, ohne es merken zu müssen. So abgründig wie in dieser Nacht fühlte sich der Song selten an.

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