Pop:Retrokolumne

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Die Wiederveröffentlichungen der Woche. Diesmal mit zwei Alben von Leon Redbone und Jan Hagenkötters "Saigon Super Sound".

Von Karl Bruckmaier

(Foto: N/A)

"Dürfen wir aufstehen?" Fragt heute natürlich kein Kind mehr nach dem Abendessen. Überhaupt: Was ist das, Abendessen? Aber tun wir mal so als ob. "Dürfen wir aufstehen?" Und die Mutter blickt jetzt stumm auf dem ganzen Tisch herum. Sie ahnt, was kommt. Der Vater, streng: "Nein, erst hören wir uns gemeinsam das gesamte Bob-Dylan-Dreifach-Album mit der leckeren Schlagersülze an." Die Kinder erstarren. Im Hintergrund grimassieren die Hauselfen. Da hebt die Jüngste schüchtern die Hand. "Vati?" "Ja, mein Kind?" Kann das Nesthäkchen das dräuende Unheil noch abwenden? "Allerliebster Herr Papa, könnten wir stattdessen nicht die Vinyl-Wiederveröffentlichung des ersten Albums von Leon Redbone hören, tausendmal kürzer, tausendmal besser?" Und die Zwillinge fallen ein, wie immer im Chor: "Ja! Ja! Onkel Jack White hat das für uns wieder ausgebuddelt, damit wir auch künftig kraftvoll zuhören können." Der Vater schweigt verblüfft. Die Mutter, gütig: "Ihr meint 'On the Track' (Third Man Rec.)? Warum dann nicht gleich...." Die Suppenschüssel unterbricht: "Au ja, dufte, knorke, klasse, wow!"

(Foto: Cover 2)

Die Mutter, jetzt ebenfalls etwas strenger im Ton, damit sich das restliche Service nicht zu viel herausnimmt: "Warum nicht 'Long Way From Home' mit Redbones Live-und Demo-Aufnahmen von 1972, also lange bevor er mit seinen Auftritten bei Saturday Night Live und in dem Budweiser-Werbespot ein größeres Publikum erreichte, wie es so schön heißt?" So schön heiß? Die Suppenschüssel fühlte sich wieder angesprochen: "Au ja, dufte, knorke, klasse, wow!" Diesmal nimmt das Nesthäkchen den roten Faden der Begeisterung auf: "Hat damals nicht sogar Dylan gesagt, falls er je ein Label gründet, sei Leon Redbone der erste Künstler, den er unter Vertrag nehmen würde?" Die Kleine konnte schon so schöne, lange Sätze formulieren. Die Hauselfen strahlen vor Stolz. Und der Vater? Will jetzt nicht als Muffel dastehen und gibt häppchenweise nach: "Wo Redbone doch jetzt so alt und krank ist, dass er nicht mehr auftreten oder aufnehmen kann - na gut!" Tosender Applaus von den Hauselfen; die Teller hüpfen wie von selbst in den Geschirrspüler und aus dem Lautsprecher gurrt der zypriotische Kanadier mit dem Strohhut: "Without my Walking Stick I'd go insane..." Alle ab. Vorhang zu.

Vorhang auf: Zweiter Akt. "Dürfen wir sitzen bleiben?" Fragt natürlich demnächst kein Kind mehr, wenn Horst Seehofer eigenhändig das G 9 an den maroden Schulgebäuden des Landes festgezurrt haben wird. Überhaupt, was ist das? Seehofer? Aber tun wir mal so als ob. "Dürfen wir sitzen bleiben? Wir würden gerne noch in Musik und Geschichte einen Randaspekt des Vietnamkonflikts vertiefen." Diesmal blickt der Vater stumm auf dem Tisch herum, doch schon hat er den Mund gespitzt, um "Blowing In The Wind" zu pfeifen. Die Kinder erstarren. Im Hintergrund wedeln die Hauselfen mit ihren übergroßen Ohren. Da hebt der Älteste die Hand. "Papa?" "Ja, mein Sohn?" Kann der gelehrige P-Seminarist das aufziehende Unheil noch abwenden? "Verehrter Herr Vater, können wir nicht für ein Jahr nach Vietnam fahren, um dort alte Singles und Kassetten aus der sogenannten Goldenen Ära des Saigon-Pop zu sammeln und anschließend eine wohldokumentierte Anthologie zum Thema 'Saigon Super Sound' herausgeben?" Die Mutter seufzt: "Daraus wird leider nichts. Das hat doch schon der Frankfurter DJ Jan Hagenkötter auf gleichnamigem Label für uns erledigt." Der strebsame Sohn will sich nicht so leicht geschlagen geben: "Hat er auch feinsäuberlich die Unterschiede zwischen dem französisch geprägten, vom Chanson beeinflussten Pop der frühen Sechziger und den späteren Bubblegum-Soul-Nummern der sogenannten Young Music herausgearbeitet?"

(Foto: Cover 3)

Die Suppenschüssel lächelt süßsauer. Doch die Mutter behält den diskursiven Überblick: "Nicht nur das - selbst Beispiele für 'theater music' fehlen nicht auf 'Saigon Super Sound'." Das Nesthäkchen muss natürlich wieder das letzte Wort behalten: "Die mag ich am liebsten, erinnern sie mich doch an kambodschanischen Pop aus derselben Zeit, der ja nun schon seit einigen Jahren dank der retrofuturistischen Aufbereitung durch die kalifornische Band Dengue Fever international wieder sehr beliebt geworden ist." Worauf die Ohren der Hauselfen wieder stolz nach unten hängen, während die Zwillinge den Refrain von "Tiger Phone Card" summen. "Bob Dylan ist auch schon mal in Saigon aufgetreten", behauptet der Vater jetzt etwas verunsichert. Die Suppenschüssel hält lieber den Rand. "Oder in Kalifornien!" Worauf sich dann endlich alle verständigen können, während die Reisschüsselchen wie von selbst in den Geschirrspüler hüpfen. Und aus. Alle ab. Vorhang.

© SZ vom 23.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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