Pop:Lasst die Welt untergehen

Anohni - neues Album 'Hopelessness'

Diese Texte! Anohnis neues Album zu hören, macht mehr Spaß als darüber zu lesen.

(Foto: dpa)

Wenn die Apokalypse nur nicht so unwiderstehlich klingen würde wie auf dem neuen Album von Anohni.

Von Jan Kedves

Bitte liebe Drohne, schieß mich ab, blas mich vom Berggipfel ins Meer und bomb mir den Kopf weg!" - Ja, wer wünscht sich denn so was? Ein neunjähriges afghanisches Mädchen, das seine Familie bei einem amerikanischen Drohnenangriff verloren hat? Ja, genau: ein neunjähriges afghanisches Mädchen, das seine Familie bei einem Drohnenangriff verloren hat, und jetzt will es ebenfalls sterben.

Das Mädchen singt die ultrabrutale Zeile, die eigentlich unmöglich in einen Popsong verpackt sein kann, nicht selbst, sondern sie wird - in einem dann tatsächlich sehr gelungenen Popsong namens "Drone Bomb Me" - von Anohni aus New York gesungen. Mit Sehnsuchts-Vibrato, mit digital perlenden Harfen und militärischem Elektro-Wumms. Großartig. Krass.

Früher hieß Anohni Antony und feierte Erfolge mit der Band Antony And The Johnsons

Die Stimme ist noch dieselbe, die Anohni schon hatte, als sie noch Antony hieß und der Sänger von Antony And The Johnsons war. Bei dem gefeierten Kammer-Pop-Projekt saß Antony am Flügel und sang, begleitet von einem achtköpfigen Akustik-Ensemble, ergreifende Hits über die Schönheit des Werdens und des Wandels - über den Seestern, den so schnell nichts unterkriegt, weil er sich neue Arme wachsen lassen kann ("Cripple & The Starfish", 2000), oder über den Jungen, der genau weiß, dass er mal eine wunderschöne Frau sein wird ("For Today I Am A Boy", 2005).

Antony And The Johnsons war eine der unwahrscheinlichsten Pop-Erfolgsgeschichten der vergangenen fünfzehn Jahre: Ein in Großbritannien geborener, in Kalifornien aufgewachsener transsexueller Junge - blass, fast zwei Meter groß - geht nach New York und findet in den Untergrund-Clubs, zwischen Drag-Queens und anderen Transsexuellen, zu seiner Gothic-Gospel-Stimme. Die kann er wunderbar ins Falsett kippen und wie ein Kolibri flattern lassen - ein Vibrato, das Menschen zu Glückstränen rührt.

Lou Reed nahm Antony unter seine Fittiche, das zweite Album "I Am A Bird Now" gewann 2005 den Mercury Music Prize. Björk, Marina Abramović, Riccardo Tisci - sie alle hofierten Antony, baten ihn als Gastsänger auf ihre Alben, in ihre Theaterinszenierungen, kleideten ihn in feinste Givenchy-Kleider. Das hätte immer so weitergehen können - aber "Hopelessness" (Rough Trade), das neue Album von Anohni, markiert nicht nur Antonys öffentliche Namensangleichung an sein lange empfundenes Geschlecht, sondern ist auch das raffinierteste Trojanische Pferd, das die Popwelt seit Langem gehört hat: ein Album, das mit elektronisch produzierten, kristallinen Popsongs Dystopien ins Ohr schmuggelt: Klimakollaps, Drohnenkrieg, Überwachungsstaat. Ohne Ironie, hundertprozentig affirmativ: Ja, bitte, lasst die Welt untergehen - je schneller, desto besser!

Was ist passiert? Erstens, so erklärt Anohni, wenn man sie trifft, sei das Konzept von Antony And The Johnsons an ein Ende gelangt. Die Geigen, das Streichorchesterhafte, das sei ursprünglich ein Punk-Statement gewesen - eine Gegenreaktion auf das Anti des Punk, also: auf schrille Gitarren. Als aber Antony And The Johnsons durch immer größere Konzerthäuser tourten - Admiralspalast in Berlin, Radio City Music Hall in New York -, blieb davon nicht viel außer Neo-Biedermeier. Der neue Elektro-Sound soll die Fans ein bisschen aufschrecken.

"Klinge ich durchgeknallt?"

Zweitens: Anohni erkannte, dass es paradox ist, die Schönheit der Natur und Mutter Erde zu besingen und dafür ständig mit großem Ensemble um die Welt zu reisen, Stichwort: CO₂-Abdruck. Eine Einsicht, von der andere Popstars, die überall auf der Welt die Welt retten wollen, eher selten Lieder singen. "Mich interessiert die Suizidalität unseres aktuellen Zustands - fast alle Narrative haben einen selbstmörderischen Unterton", sagt Anohni.

Sie meint alles auf einmal: den Jubel für Donald Trump, den Hass auf Flüchtlinge, Obamas Drohnenkrieg, der neuen Terror produzieren werde. Sie sagt, dass sie "Hopelessness" mit kleinerem Team auf Tour bringen werde (Stichwort: ökologischer Fußabdruck) und schon in den Achtzigerjahren fasziniert gewesen sei, wenn heiter gestimmte elektronische Tanzpopsongs - wie "Enola Gay" von OMD - die härtesten politischen Botschaften transportierten. Es sei keine Lösung, sich in Irland eine Hütte ohne Strom zu kaufen und zu hoffen, dass die Kuh nicht zu viel Methan produziere. Immer wieder hält sie im Gespräch inne: "Klinge ich durchgeknallt? Ist es verrückt, dass ich über all das rede?"

Testosteron und sein Beitrag zum Zustand der Welt

Anohnis neues Album fällt in eine Zeit, in der ein neuer Blick auf Transsexualität geworfen wird. Der Berliner Fotograf Joseph Wolfgang Ohlert zeigt in seinem aktuellen Bildband "Gender As A Spectrum" unaufdringlich intime Porträts von Menschen wie Anohni - Menschen, die sich auf der Skala zwischen Frau und Mann dazwischen verorten. Einige berichten von Hormonbehandlungen - wie diese die Wahrnehmung verändern, das Verhalten.

Der spanische Philosoph Paul B. Preciado erzählt in seinem Buch "Testojunkie", das soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist, wie er - noch als Frau, mit Vornamen Beatriz - anfing, sich täglich 50 Milligramm Testosteron, ein Hormongel vom Schwarzmarkt, in den Haut zu reiben. Die Folgen des Selbstversuchs: weniger Schlaf, Aggression, stinkender Schweiß.

Damit wäre man bei Anohni und ihrer neuen Musik. Während sie keinen Drang verspürt, sich operativ in ein Playboy-Superbabe zu verwandeln wie etwa im vergangenen Jahr der transsexuelle Olympia-Star Caitlyn Jenner, singt sie auf ihrem neuen Album über Testosteron, genauer: seinen Beitrag zum Zustand der Welt.

Ihr Album "Hopelessness" schließt da an, wo die großen Stars in den Charts unterwegs sind

"Violent Men", mehr Mantra als Song, handelt von der Paradoxie, dass die Männer, die die Welt zerstören und Frauen unterdrücken, von Frauen geboren wurden. Das liest sich böse, Anohni meint es aber eher nett: "Wir müssen den Männern dankbar sein: Hätten sie uns in der Steinzeit nicht beschützt und wilde Tiere getötet, würde es uns heute nicht geben. Das Problem ist nur, dass dieses biologische Programm noch immer so abläuft - und die Männer nicht begreifen, dass sie die Welt mit ihrem Beschützer- und Killerinstinkt längst in den Abgrund steuern."

Wieder hält Anohni inne und fragt: "Klinge ich durchgeknallt?" Wohl kaum. Wobei es dann doch mehr Spaß macht, Anohnis neues Album zu hören als darüber zu lesen. Die großartigen Songs wurden von dem schottischen Elektro-Tüftler Hudson Mohawke und seinem New Yorker Kollegen Daniel Lopatin so produziert, dass ihr Sound genau dort anschließt, wo die großen Popstars gerade in den Charts unterwegs sind. Aber eben mit diesen Texten! So lässt man sich in apokalyptischem Rihanna-Sound von Fischen vorsingen, die tot im kochenden Meer treiben - nicht lecker, aber gut gemacht.

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