Pop:Gefühlsplanet

In einem Haus in Schweden hat die deutsche Band "Selig" wieder zueinander gefunden. Jetzt rocken sie in München

Von Michael Zirnstein

Obwohl sie hier noch nie waren, fühlten sich die Musiker der Band Selig im Spätherbst am Ammersee gleich wie zu Hause. Am Abend davor hatten sie noch zu Hause in Hamburg auf dem Reeperbahn-Festival, dem wichtigsten Pop-Business-Treff im Land gespielt, und es wurde spät danach, denn es gab viel zu feiern, die Auferstehung von Selig auch als Markt-Macht sozusagen. Kontrastprogramm dann am nächsten Tag vor dem Auftritt beim neuen "Magic-Lake"-Open-Air: Hotelzimmervorhang auf, ein Blick auf Berge und Zwiebeltürme, schnell raus und ans Schilf gelümmelt. "Mensch, das könnte auch in Schweden sein, wie am Meer!", fiel dem Sänger Jan Plewka auf. Und in Schweden, da sind ihre Herzen daheim.

In einem Holzhäuschen bei Göteborg wurden Selig abermals neugeboren. Mitte der Neunziger hatten sie sich mit Hits wie "Sie hat geschrien" oder "Ohne Dich" als "die deutschen Nirvana" vor allem in Mädchen-Herzen eingenistet, 1999 nach Plewkas panikartiger Flucht von der "Schweinerennbahn Pop" aufgelöst und 2009 wieder zusammengerauft. Nach drei weiteren Alben waren sie erneut "am Nullpunkt": Das Management gefeuert, die Plattenfirma verlassen, den Keyboarder Malte Neumann an einen Bürojob verloren und alle mit anderen Dingen beschäftigt - sie wussten nicht, wie es weitergehen würde, und ob überhaupt. Plewka, der sich schon 1999 in einem Hütten-Exil in Schweden wiedergefunden hatte, rief seine Band zusammen, setzte sie in ein Auto, und sie fuhren für "eine Woche der Wahrheit" nach Norden zu einem Haus, das einst den Großeltern seiner Frau Anna gehört hatte.

Selig

Eine Band im Selbsterfahrungsurlaub: Aus einer "Woche der Wahrheit" in Schweden wurde ein neues "Selig"-Album.

(Foto: Mathias Bothor)

Am nächsten Tag wachten sie eingeschneit auf, auch die Herzen vereist, denn Trump hatte die US-Präsidentenwahl gewonnen. Sie stapften durch den Schnee auf den Hausberg, blickten staunend über die Schären-Inselwelt - "es war der schönste und schlimmste aller Tage". Sie sagten: Lasst uns ins Haus gehen und ein Lied aufnehmen! "Und dann entstand tatsächlich Musik", wundert sich der Bassist Leo Schmidthals. "Wintertag" heißt die erste bluesig-knisternde Nummer, mit der sie ihr "zartes, erstes Empfinden" festhielten, wie Stoppel Eggert es beschreibt, der auf einem geliehenen Uralt-Schlagzeug spielte. Sie ahnten: Sie sind wieder da.

Vier Mal noch quartierten sie sich jeweils für zehn Tag in der Hütte ein, blieben unter sich, bis auf den Nachbarn Pelle, einen frisch pensionierten Postboten, der früher Punk-Gitarrist war und sie beriet: "Wieso wollt ihr auf ,Wintertag' Beatles-Chöre, die hört man doch eh mit." Also ließen sie sie weg und Pelle auf "Zu bequem" Ukulele spielen. "Unser einziger Gastmusiker", sagt der Gitarrist Christian Neander. Sie fühlten sich wieder wie 1993, als sie mit langen Haaren, in Schlaghosen und seltsame Kräuter rauchend in der Bar Wojtyla abhingen und einen Namen für ihre Band suchten: "Kashmir Karma" hielt sich hartnäckig. So heißt nun das siebte Album. "Das passt zur Atmosphäre in der Hütte, so hippiemäßig", findet Plewka, der irgendwann sagte: "Ihr seid meine Freunde." Sie googelten den Namen, und entdeckten nur ein Gewürz, das so heißt. "Die Beschreibung könnte man als Werbetext für die Platte nehmen: Opium flavoured with spicy roots." Das Kriterium für neue Songs lautete: "Was nicht gemeinsam schwingt, fliegt raus. Ziemlich spirituell." Und gegen den harten Ton von Trump und den anderen Populisten da draußen wollten sie das setzen, was sie "auf dem Gefühlsplanet Selig" am besten können: "Zu den Herzen der Menschen finden."

Am Ammersee klappte das schon prima. Die Veranstalter des Festivals schickten leuchtende Stelzenfiguren ins Publikum, und wie ein Drogenrausch strahlte dunkel der neue psychedelisch-rockende Selig-Retrosound darüber. Ohne Keyboard haben sie nun mehr Raum für die anderen Instrumente, den grollenden Bass, das Polter-Schlagzeug, das Gitarrengeorgel und Jan Plewkas - immer noch an Rio Reiser erinnernde - Raspelstimme. Über das schwere Riff - offenbar eine Hommage an Led Zeppelins "Whole Lotta Love" - singt er im Stück "DJ": "Er hört die Frequenzen und öffnet den Beat / In die Herzen der Menschen / Und beendet den Krieg." Den Krieg haben sie selbst in der Band zehn Jahre lang gehabt, sich "mit dem Arsch nicht angeschaut", sagt Plewka, ihr magischer Ausflug hat sie wieder zusammengeschweißt.

Selig, Donnerstag, 23. November, 20 Uhr, Muffathalle, Zellstraße 4

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