Bob Dylan:Als Bob Dylan in die Zukunft Amerikas blickte

Bob Dylan Gospel Tour, '79

November 1979: Bob Dylan präsentiert sein Album "Slow Train Coming" mit ausschließlich christlichen Liedern im Fox Warfield Theatre in San Francisco. Und predigt.

(Foto: Getty Images)

Dylans christliche Periode Ende der Siebziger wird gerne belächelt. Dabei arbeitete sich der unbarmherzige und übellaunige Prediger mit seherischer Qualität an den Auswüchsen des Neoliberalismus ab.

Von Max Dax

Eine Zeile genügte im Jahr 1979, um die Fangemeinde des Sängers Bob Dylan nachhaltig zu entzweien. "Ya either got faith or ya got unbelief and there ain't no neutral ground." Auf deutsch: "Entweder du bist gläubig, oder du bist ein Ungläubiger / Es gibt keine Neutralität dazwischen." Das Lied hieß "Precious Angel", und die Botschaft war eindeutig: Du musst an etwas glauben, also an Jesus Christus oder an Gott. Sogar der Glaube an den Teufel sei der Ungläubigkeit bedingungslos vorzuziehen. Sagt Bob.

Da war der Sänger zum heiligen Krieger geworden, ein Kreuzritter des Christentums, ein Racheengel für deine Sünden, wobei die größte Sünde laut Reverend Dylan darin bestand zu glauben, dass es möglich sei, sich elegant-abwägend und ohne Blessuren aus der Affäre ziehen zu können.

Spiritualität, Globalisierung - interessant ist heute, woran sich Dylan damals abgearbeitet hat

Dylans Nase ist dicht. Sein Gesang ist gepresst. Niemand weiß, wie viel Kokain durch die heiligen Nasenflügel gezogen worden war auf der vorangegangenen Welttournee im Jahr 1978, als Bob Dylan seine Protest- und Bürgerrechtslieder, aber auch seine späteren, zutiefst fragilen Balladen von Verletzlichkeit und innerer Einkehr mit Bigband-Arrangements zu einer bisweilen ins Groteske gezogenen Seventies-Show aufgeblasen hatte. Spötter verhöhnten diese mit dem aufgedonnerten Doppelalbum "Live at Budokan" dokumentierte Tour als "Alimente"-Kollekte — sah sich der Sänger doch mit einer äußerst kostspieligen Scheidung von seiner langjährigen Frau Sara Lowndes ein Jahr zuvor konfrontiert. Das Internet ist voller kleiner und großer Geschichten um sexuelle Affären, Drogenexzesse und sonstige Ausschweifungen, auch wenn der notorisch wortkarge Sänger sich zu diesen nie geäußert hat. Gleichwohl schien sich die alte Weise vom geläuterten Sünder zu bestätigen: dass derjenige am lautesten die Reinheit predigt, der zuvor am schlimmsten gewütet hatte.

Als Bob Dylan vom 2. bis 15. November 1979 insgesamt zwölf Konzerte im Fox Warfield Theatre in San Francisco gibt, um das neue Album "Slow Train Coming" mit ausschließlich christlichen Liedern zu promoten, predigt der Sänger geradezu penetrant von der Bühne herab zu seinen Fans. Die müssen doppelt schlucken: Einerseits spielt Dylan ohne Vorwarnung schwarze, pumpende Gospelmusik mit einer packenden Rockband, mit Orgel und Klavier, mit Gospelchor und endlosen Belehrungen zwischen den Songs. Andererseits spielt er nichts anderes als das — also nicht einen einzigen Song, mit dem er berühmt geworden war, kein Lied, das seinen Status als linksliberales, vereinendes Gewissen der Nation einst im kollektiven Bewusstsein der USA verankert hatte, keine seiner meisterhaft-lyrischen Balladen. Nicht wenige Besucher der Konzerte von 1979 begannen sich die aufgeblähten Arrangements vom Jahr zuvor zurückzuwünschen, während die Kritiker auf Dylans permanenten Wandel verwiesen, den neuesten Winkelzug aber als endgültige Sackgasse schmähten.

Heute, fast vier Jahrzehnte später, ist zumindest Dylans Welt nicht mehr in Schwarz und Weiß, in Gläubige und Ungläubige geteilt. Davon berichtet "Trouble No More", eine üppige neue 8-CD-Box mit dickem Fotobuch und einer Bonus-Doku-DVD über Dylans Gospeljahre. Kurz zusammengefasst kommt diese Box einer Ehrenrettung jener umstrittenen Periode gleich.

Auf sechs Live-CDs aus den Jahren 1979-81 - so lange regierte Jesus im Reiche Dylan - kann sich selbst der größte Zweifler heute davon überzeugen, dass der Sänger damals nicht nur seine schneidende Stimme wiedergefunden hatte, sondern auch die Musik in diesen Jahren elektrisierend, pulsierend, intensiv und berauscht war, auch wenn die Droge der Stunde auf den Namen Jesus hörte. Auf den restlichen zwei CDs sind Outtakes, alternative Versionen und nie zuvor veröffentlichte Songs versammelt, von denen einige wenige als sensationell zu bewerten sind, während der predigende, schlecht gelaunte und zudem verschnupfte Tonfall in einigen der anderen Songs ans Unerträgliche heranreicht.

Ein Land, das seine industrielle Identität verliert

Die wahre Lehre, die "Trouble No More" (Sony) für den offenen Hörer bereithält, liegt ohnehin ganz woanders, also eben nicht in der Frage, ob der bis heute weit verbreitete Konsens gerechtfertigt ist, dass Dylans Gospeljahre herablassend als Ausrutscher zu bewerten seien. Viel interessanter sind die unbequemen Konfliktlinien, an denen sich Dylan jenseits des Sermons abgearbeitet hat. Eine tief liegende Skepsis gegenüber den (beginnenden) Auswüchsen des Neoliberalismus und der Globalisierung einerseits sowie der damit einhergehende zunehmende Verlust von Spiritualität andererseits - das sind die großen Fragen, die der Lyriker Dylan in seinen Songtexten stellt, lange bevor er für den Gesamtkörper seiner Lyrics im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis verliehen bekam.

In dem Song "Slow Train Coming" - dessen Entstehungsgeschichte mit sage und schreibe sechs Versionen auf "Trouble No More" beispielhaft für die beharrliche musikalische Arbeitsweise in das Zentrum der Narration gestellt wird - singt Bob Dylan die Zeilen: "All that foreign oil controlling American soil / ... / Deciding America's future from Amsterdam to Paris." ("Fremdes Erdöl kontrolliert Amerika / ... / Dessen Zukunft an den Börsen von Amsterdam und Paris entschieden wird.") Man meint fast, Donald Trump predigen zu hören, gleichwohl erinnern wir uns: Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 1979, sie weisen also trotz aller Belehrung ein seherisches, diagnostisches Element auf, das die große Erzählung Amerikas als Land, das seine industrielle Identität verlieren wird, spiegelt.

Der unbarmherzige, übellaunige Evangelist Dylan hat auf diesen Verlust von Identität, Spiritualität, Überschaubarkeit und das Verschwinden von menschlichen Dimensionen eine zunächst eindimensionale, religiöse Antwort. Die Analyse indes, den Verweis auf eine tiefe und gefährliche Krise der Spiritualität, haben zeitgleich auch andere Mahner formuliert und in ihrer Kunst thematisiert. Als prägnantestes Beispiel hierfür wäre der russische Filmregisseur Andrej Tarkowski zu nennen, der wie Bob Dylan das weite Themenfeld spiritueller Entwurzelung, des Verlusts von Traditionen und Heimat sowie der Kunst als möglicherweise rettender Erzählung in Filmen wie "Stalker" (1979) und "Nostalghia" (1983) studierte und in ebenso poetische wie starke Bilder wandelte.

Dylan wich schrittweise von seiner extrem dogmatischen Bibelauslegung in den Folgejahren nach 1979 zurück, als er mit den Alben "Saved" und "Shot of Love" die Beschäftigung mit Gott zunächst zwar vertiefte, um sie aber schließlich in eine zugänglichere Spiritualität zu verwandeln, in der auch seine Lyrik wieder an Zärtlichkeit und Kraft zulegte.

Allerdings bleibt die eine Frage, an der sich einst die Geister schieden, bis heute unbeantwortet: Gibt es nicht vielleicht doch so etwas wie einen "neutral ground", eine Art gnostisches Zwischengeschoss, in welchem die Frage nach dem schleichenden Verlust der Spiritualität in der westlichen Welt konstruktiv und erkenntnisstiftend verhandelt und besprochen werden kann? Kein Interviewer hat Bob Dylan je die Frage gestellt, wie er zu Andrej Tarkowskis Idee der Poesie als letzten Rettungsanker des entwurzelten Menschen steht. In seiner gescheiten Literaturnobelpreisrede verwies Bob Dylan lediglich auf Melville, Homer und Remarque, um in der Schlussfolgerung den Lyriker (also sich selbst) zu beschreiben als jemanden, der bloß ein Medium sei, durch den die Muse singe. Was aber bedeutet das im Rückblick für die Unerbittlichkeit seiner christlichen Jahre? Unter diesem Blickwinkel kann man tatsächlich viel Bereicherndes in den voller Inbrunst gesungenen Liedern jener Zeit finden, wie sie jetzt umfassend in "Trouble No More" dokumentiert sind.

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