Pop:Die hohe Kunst der Beiläufigkeit

Rapper Aubrey Graham aka Drake performs at the United Center on October 5 2016 in Chicago Illinois

Eher emotionales Synthie-Glissando als Klagegesänge von Aliens: Rapper Aubrey Graham aka Drake.

(Foto: Imago/The Photo Access)

Zeitgemäßer als auf "Scorpion", dem neuen Album des Emo-Rap-Stars Drake, gibt es Pop gerade nirgends. Nebenbei knackt der Rapper alle Streaming-Rekorde.

Von Juliane Liebert

Drakes soeben erschienenes neues Album "Scorpion" ist einer Menge Menschen auf der Welt sehr wichtig. Das hat verschiedene Gründe. Es ist 2018, Hip-Hop und R'n'B sind die Pop-Genres der Stunde (des Jahres, des Jahrzehnts). Auf allem wird die beliebte Stimmmanipulationssoftware Autotune eingesetzt, Beyoncé und Jay Z ziehen auf Tournee durchs Land wie König und Königin, und Drake ist Drake, der traurige, aber sympathische Typ, der aussieht wie eine Nebenfigur in einem B-Movie. Wenn Drake ein neues Album veröffentlicht, gibt es Liveblogs. Nicht weil das Album live wäre, es gibt Liveblogs, in denen Menschen die Songs einzeln kommentieren, denn wenn sie sich erst das ganze Album anhören und ihre Meinung dazu aufschreiben würden, würden sie Zeit und Klicks verlieren und damit Aufmerksamkeit. Also gibt es Liveblogs zu einem Studioalbum und ferner kleine Revolten, wenn es, wie diesmal geschehen, drei Stunden zu spät auf Spotify ist. Menschen kündigen wutentbrannt ihre Spotify-Abos, weil sie drei Stunden länger als Apple-Music-Nutzer auf Drakes neues Album warten müssen.

Drake knackt Streamingrekorde, während die Streamingzahlen von Jay Z und Beyoncé, die ihr neues Album exklusiv auf dem familieneigenen Streamingdienst Tidal veröffentlicht haben, sehr überschaubar bleiben. Der Plan, Einnahmen für Musiker durch exklusive Releases zu maximieren, scheint nicht aufzugehen. Es zeigt sich vielmehr, dass Exklusivität nichts nützt, weil man damit nicht Marktanteile im Streaminggeschäft gewinnt, sondern nur die Nutzer dazu anspornt, sich die Musik als Raubkopie zu beschaffen.

Welche Streaming-Rekorde hat Drake eigentlich noch nicht geknackt?

Fast alle anderen Musiker, die Streamingdienste aus ähnlichen Gründen zeitweise boykottiert haben, haben es sich inzwischen anders überlegt, Taylor Swift etwa. Warum konnte Streaming die Musikindustrie retten? Wegen der Nutzerfreundlichkeit - jahrelang hat sich die Industrie nur mit der Hatz auf Copyrightverletzer beschäftigt und komplizierte Kopierschutztechniken entwickelt. Dafür kassierte sie wenig mehr als ein Schulterzucken der Nutzer, weil digitale Marktwirtschaft eben so nicht funktioniert: Die Menschen wollen ein gutes Produkt, das unkompliziert zu bedienen ist - dann zahlen sie auch. Deshalb ist allgemeine Verfügbarkeit der Clou. Der Erfolg von Drake beweist es.

Am 29. Mai veröffentlichte der Rapper Terrence Thornton alias Pusha T seine Single "The Story of Adidon", auf dem Cover ist Drake mit einem schwarz geschminkten Gesicht zu sehen. Im Track werden Drakes Eltern beschimpft und es wird auf die Multiple Sklerose seines Produzenten Noah "40" Shebibs angespielt. Außerdem behauptete Pusha T, Drake habe ein Kind mit einer ehemaligen Pornodarstellerin. Seitdem wartet das Internet auf eine Antwort, und das neue Doppelalbum von Drake wird bis in die letzte Zeile diskutiert. Die A-Seite wurde als eher Hip-Hop-lastig und die B-Seite als R'n'B-lastig angekündigt. Es gibt ein Michael-Jackson-Feature, die Singles "Nice For What", "I'm Upset" und "God's Plan" wurden schon lange vorab lanciert, aber die entscheidende Frage ist gar nicht, wie die Singles heißen, sondern: Hat Drake ein geheimes Kind? Wird er zurückschlagen gegen Pusha T? Geht es noch um die Musik, oder ist das alles eher eine aufgeblasene Rap-Daily-Soap?

Auf jeden Fall ist "Scorpion" ganz anders angelegt als noch der Vorgänger, "Views". Auf "Views" war jeder Track eine eigene Welt, ein Urlaubsort, eine Sehnsucht für sich. Die Tracks auf "Scorpion" wirken eher wie Sperrfeuer. Gute Beats, aber kein besonders außergewöhnlicher Sound. Für Drakes Verhältnisse gibt es verhältnismäßig wenig Gesang. Alles wirkt, als ob er auch anders arbeitet: "Is There More" ist etwa sehr konkret, vier oder fünf scheinbar direkte Berichte aus seinem Leben, als sähe man ihm zu, wie er Tag für Tag ins Studio geht. Dabei wiederholen sich die Themen oft. Das Album ist - darin unterscheidet es sich nicht vom Vorgänger - weniger ein Album als eine Playlist. Begleitmusik zur vorbeiziehenden Stadt. Allein mit Drake. Aber nicht im Kinderzimmer wie in den Neunzigern, sondern in der Öffentlichkeit, in der digitalen Einsamkeit.

Drake hat sich den Raum genommen, wirklich von sich zu reden. Die meisten Rapper tun das in Plattitüden, er nicht. Drake artikuliert sich dabei meist ziemlich klar, seine Stimme ist stark in den Vordergrund gemischt. Er setzt den Effektschnickschnack wie Autotune nicht nur zum Rumalbern ein, sondern ganz gezielt, um Stimmungen zu evozieren, Lebenssituationen emotional zu beglaubigen.

Wenn er ohne Autotune rappt, dann oft sehr gleichmäßig auf einem Ton, aber trotzdem mit einem gewissen Zug. Musikalisch ist das Album ziemlich transparent. Eher emotionales Synthie-Glissando als Klagegesänge von Aliens. Er schafft es, eine wirklich besondere Lebensnähe herzustellen, indem er perfekt auf der Klaviatur der Emo-Effekte seines Genres spielt - aber mit einer ganz speziellen Beiläufigkeit.

Das macht ihn neben Kanye West und den Carters zum dritten Teil der wegweisenden Rapdreifaltigkeit dieses Jahres: Kanye West - Beyoncé/Jay Z - Drake. Kanye ist dabei das sonderbare Genie, das trotzdem irgendwie die Wahrheit sagt, also der (verkorkste) Sohn. Die Carters sind die Vatermuttersymbiose, und Drake schwebt als heiliger Geist irgendwie klassizistisch durch Freuden und Leiden des Lebens.

Und hat er jetzt einen geheimen Sohn, den er vernachlässigt? Tja, wen kümmert's, er hat ein Album gemacht, das eines der besten dieses Sommers ist. Darüber kann man als Hörer schon mal ein Kleinkind, das nicht das eigene ist (sondern vielleicht seins), vernachlässigen.

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