Neues Album der Magnetic Fields:50 Songs für 50 Jahre

The Magnetic Fields

50 Jahre, 50 Songs: der amerikanische Songwriter, Sänger, Mulitiinstrumentalist und Pop-Spinner Stephin Merritt.

(Foto: Warner)

Über jedes Lebensjahr ein Song: Der amerikanische Songwriter Stephin Merritt von den Magnetic Fields hat sein Leben vertont. Möchte man das wirklich hören? Allerdings!

Albumkritik von Julian Dörr

Dieser Text muss mit einer Kapitulation beginnen. Denn das neue Album von Stephin Merritt und seiner Band The Magnetic Fields stellt einen vor eine unlösbare Aufgabe. Es geht allerdings nicht darum, dass es sich bei dem autobiografischen Großprojekt "50 Song Memoir" (Nonesuch / Warner) um eines der Pop-Ereignisse des Jahres handelt. Nein, das Problem ist eher mathematischer Natur.

50 Songs hat Stephin Merritt, Multiinstrumentalist und Kopf seiner amerikanischen Indie-Pop-Band, geschrieben, einen für jedes Jahr seines Lebens. Von 1966 bis 2015. In jedem dieser Songs tauchen sieben Instrumente auf, und jedes Instrument kommt insgesamt sieben Mal vor, wobei keine Kombination zweimal auftauchen darf. Frage: Wie viele Instrumente hat die Band für dieses Album eingespielt? Und zählt das Katzenmaunz-Solo aus dem Song "'68 A Cat Called Dionysus" als eigenes Instrument?

Wie auch immer, man darf sich die Produktion von "50 Song Memoir" wohl wie die Arbeit eines gut organisierten Planungsbüros vorstellen. Wände voller Whiteboards, Post-its und Konstruktionsskizzen. Hier kommt das Clavichord hin, da die Sitar, dort das Charango. Ein Charango ist übrigens ein kleines Zupfinstrument aus den südamerikanischen Anden, für dessen Resonanzkörper traditionell der getrocknete Panzer eines Gürteltiers verwendet wurde. Aber egal.

Was Merritt und Band geschaffen haben, gab es so bislang noch nicht

Das Wunder ist nun, dass dabei am Ende kein seelenlos überladenes Weltmusikalbum herausgekommen ist, sondern 50 wirklich ganz fabelhafte Pop-Songs. Stephin Merritt, der große Entfesselungskünstler, kann offenbar noch aus dem engsten Korsettkonzept die schönsten Zwei-Minuten-Nummern zaubern. Oder sich vielmehr tatsächlich erst dann freidenken. In den Neunzigern schrieb er so ein Album über Verkehrsmittel und Vampire ("The Charm of the Highway Strip"), später veröffentlichten die Magnetic Fields ein Album ohne Schlagzeug ("Realism"), ein Album mit ausschließlich verzerrten Gitarren ("Distortion") und ein Album, dessen Songs alle mit dem Buchstaben "i" begannen ("i").

Das Hauptwerk der Magnetic Fields ist aber die aus drei CDs bestehende Box "69 Love Songs" aus dem Jahr 1999. 69 zusammengeschrammelte Liebesgeschichten, jenseits aller Geschlechterstereotype und Genreschubladen - von Kammermusik über Irish Folk und Trucker-Americana bis zu Synthie-Pop. "50 Song Memoir" ist nun in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung der "69 Love Songs". Nur dass Merritt in seiner immer leicht spöttischen Bass-Stimme nicht ausschließlich über die Liebe sinniert, sondern sein eigenes Lebens durchleuchtet. Von den frühkindlichen Erinnerungen an das Kommunenleben mit der nomadisierenden Hippie-Mutter bis zur Heuchelei des gereiften Bar-Songwriters. Jahr für Jahr, Song für Song.

Für gewöhnlich bringt ein Projekt dieses Ausmaßes jede Menge Ausschussware mit sich. Hier nicht. Jede Minute fügt sich in die größere Geschichte, jeder Song spielt seine Rolle. Und was für Songs das sind: In "'69 Judy Garland" fliegen Steine zu federndem Power-Pop, während Stephin Merritt eine Befreiungshymne der LGBT-Gemeinschaft anstimmt - in Erinnerung an die Stonewall-Ausschreitungen zwischen Homo- und Transsexuellen und der New Yorker Polizei von 1969. "'86 How I Failed Ethics" hingegen erzählt zu schunklig-verzogenen Synthieschlieren von hochkomplexen cyberethischen Systemen, die der junge Merritt während seiner Collegezeit konstruiert hat. "'01 Have You Seen It in the Snow?" schließlich ist eine aufrichtig kitschige Folk-Liebeserklärung an das New York nach 9/11.

Was Merritt und Band auf "50 Song Memoir" geschaffen haben, gab es so bislang noch nicht. Würde man nach Vergleichbarem suchen, müsste man Richard Linklaters filmische Coming-of-Age-Studie "Boyhood" oder die Alltagsliteratur von Karl Ove Knausgård heranziehen.

"50 Song Memoir" ist ein Liederzyklus, der sich weder der Nostalgie hingibt noch retromanisch die Selbst-Musealisierung betreibt. Weil 1974 hier eben nicht wie 1974 klingt, sondern so, wie 1974 klingen muss, damit Stephin Merritt seine Geschichte erzählen kann. Mit Ukulele und Trompeten.

Gerade Musikerbiografien haben ja oft eine schaurige Ernsthaftigkeit an sich, eine So-war-es-damals-wirklich-Verbissenheit im Angesicht der eigenen schwindenden Relevanz. Aus Stephin Merritts musikalischer Autobiografie spricht dagegen die lebensverändernde Kraft der Musik. Zwei volle Stunden lang.

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