Pop:Dem Himmel so nah

Der Graf hört auf. Er habe sein Lebenswerk vollendet, sagt er. Diese Tour soll die letzte sein. Danach ist "Unheilig" Geschichte

Von CHRISTIAN JOOSS-BERNAU

Es wird der 10. September 2016 sein. In Köln soll an diesem Abend das letzte Unheilig-Konzert über die Bühne gehen. Mit seinem neuen Album ist der Graf auf seiner letzten Tour. Aber ist das so? Man hat ja schon viele Künstler gehen und kommen sehen. "Wenn ich von der Bühne runtergehe, gibt es Unheilig nicht mehr", sagt der Graf. Für seine letzten Münchner Interview-Termine vor ein paar Monaten ist er um zwei Uhr morgens in seiner Heimatstadt Aachen aufgestanden und hat sich ins Auto gesetzt. Unter seinen Augen stand noch ein Rest Nacht. Sonst sah der Graf mustergültig aus - bis zum perfekt rasierten Backenbart. "Gipfelstürmer" heißt das neue Album. Auf dem Cover raucht eine Lokomotive dem Hörer entgegen, so wie auf "Große Freiheit" ein Schiffsbug das Wasser teilt. Der Graf nimmt niemals das Flugzeug, er reist ebenerdig. Und wenn es sich einrichten lässt, übernachtet er daheim.

Noch vor der Jahrtausendwende gegründet, waren Unheilig lange eine Gruppe für die subkulturelle Nische zwischen Wave und Gothik. Vorbereitet von "Puppenspiel" änderte sich das 2010 mit "Große Freiheit". Drei Unheilig-Alben in Folge setzten sich über Wochen auf Platz eins der deutschen Charts. So ein Erfolg muss sich im Leben der Bundesbürger niederschlagen. Unheilig-Lieder begleiten sie mittlerweile von der Wiege bis zu Bahre. "Mein Stern" zur Taufe. "Unsterblich" zur Hochzeit. "Geboren um zu leben" zur Beerdigung. Der Graf spricht mit angenehm sonorer Stimme, die ein heimeliges Gefühl gibt. So, als würde man sie von alten Kinderhörspielkassetten kennen. Als Künstler hat er bis heute keinen bürgerlichen Namen. Wie er lebt und mit wem - das hat er Journalisten nie erzählt.

Aber der Mensch, der einem gegenüber sitzt, ist keine Kunstfigur. Und im Gegenteil sehr offen und auch ungefragt persönlich. Selbst über seine Kindheitserinnerung an die Märklin-Eisenbahn mit der Lokomotive mit dem Rauchgenerator wird man am Ende sprechen. "Mein Berg" heißt ein Lied auf seinem neuen Album. Zwei Pianoakkorde. Synthie-Brausen. Der Berg ist natürlich ein Symbol, die Aufgabe des Sängers, der da hinaufstrebt: "Ständig auf der Suche / Nach Anerkennung und Applaus". "Ich bin von klein auf groß geworden, ohne ein Selbstbewusstsein aufzubauen. Wenn du von klein auf stotterst, ist dein Leben davon geprägt, dass du immer dieses Gefühl hast, dass du etwas falsch machst", erklärt der Graf den Text. Manchmal bleibt seine Stimme im Gespräch an einem Wort hängen und schafft es nicht darüber hinweg. Dann bittet er, ihm zu helfen. Es ist auch eine Erlösung von der reflexhaften Befangenheit, die man als Gesprächspartner in solchen Momenten spürt. "Dieses Sprachproblem wird ja von deinem Umfeld in einer Größenordnung aufgebaut, das du das als kleiner Junge gar nicht begreifst," sagt der Graf. Das Sprachproblem - ein ständiges Hemmnis des Heranwachsenden. Es ist nicht so, dass man hier Geheimnisse erführe. Der stotternde Junge ist ein Lebensthema des Grafen. Und seine Überwindung ist die Bühne. "Wenn ein Stotterer sich verkleidet, stottert er weniger." Und wenn ein Stotterer singt, lässt er sein Sprachproblem ganz hinter sich. Der schwarze Anzug, das weiße Hemd, der markante Backenbart - es sind Rudimente einer Verkleidung, die das Aus-sich-Heraustreten ermöglichen. Die Bühne aber, sie ist noch nicht die Vollendung der Selbstbefreiung, das wird im Gespräch deutlich: "In dem Moment, wo du die Bühne verlässt und wieder in deinem normalen Leben bist, hast du kein Selbstbewusstsein mehr. Also suchst du immer diesen Kick da oben." Einher mit dem Charterfolg ging die übliche Reihe von Auszeichnungen: Bambi, Echo und so weiter. Man möchte meinen, man habe irgendwann genug davon, sich immer noch einen Pokal ins Regal zu stellen. Nicht allerdings, wenn man solche Bestätigung so dringend braucht.

Unheilig

Doch heilig: Der Graf von Unheilig ist auf dem Gipfel seines Erfolges angekommen. Hier verlässt er nun die Fangemeinde.

(Foto: Erik Weiss)

Lieder auf dem neuen Album heißen "Alles hat seine Zeit" oder "Dem Himmel so nah". In "Die Weisheiten des Lebens" breitet der Sänger sie alle aus, diese Erkenntnisse. Und gleich die erste heißt: "Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum". Das Keyboard schmirgelt. Und weiter hinten puckert eine E-Gitarre. An Unheilig scheiden sich die Geister. Wo die einen Weisheiten hören, hören die anderen Kalendersprüche. Man kann auch sagen, dass der Graf Schlager für Menschen macht, die mit E-Gitarren und harten Beats aufgewachsen sind. Schlager, die ein bisschen nach Subkultur schmecken, und gerade deshalb massentauglich sind. "Diese ganzen Attribute wie Liebe, Hoffnung, Glaube, Mut, Kraft, Gib nicht auf, Geh Deinen Weg, Glaub an dich - das sind die Werte, die ich selber gelebt habe, weil ich mir mit der Musik jahrelang selber Mut gemacht habe", spricht der Graf.

Vielleicht ist dieser Erfolg ja ein verrücktes Missverständnis. "Die Musik ist ein Spiegel meines Lebens. Wer mich kennenlernen möchte, braucht sich bloß meine Lieder anhören," sagt der Graf. Aber Pop-Musik ist eben oft eine Fläche, auf die sich der Hörer selber projiziert. Der Graf ist der Mustermann für das eigene Leben. Und gerade deshalb ist das formelhafte Gefühl in Musik und Text so geeignet, um damit die eigenen Lebensabschnitte zu tapezieren. Unheilig - das ist Musik, die das ein klein wenig degoutante Gefühl bedient, von sich selber gerührt zu sein.

Aber auch wenn einem die Texte zu simpel, die Musik glattproduziert erscheint: Unheilig ist ein bemerkenswert geschlossenes Gesamtkonzept. Die Cover leuchten kraftvoll zwischen Holzschnitt und sozialistischem Realismus. Die mit einer ganzen Schar Produzenten geformte Musik bringt Xavier-Naidoo-Fans mit Rammstein-Freunden zusammen. Die Texte, die das Treibgut romantischer Motive sammeln, das man heute in Lebensratgebern findet, verhalten sich zu Literatur wie eine Candle Light Dinner zu Joseph von Eichendorff. Dies alles bündelt eine monochrome Figur. Der Graf ist einem Schwarz-Weiß-Film entstiegen. Und spricht aus einer idealisierten Vergangenheit in die Gegenwart hinein.

Sein Backenbart wird grau. Und graue Bärte sind schwerer akkurat zu rasieren. Für den Grafen soll nach diesem Album und der Tour ein neues Leben beginnen. Er will raus aus der Öffentlichkeit, einen normalen Alltag und Zeit für die Familie haben. Einen Karriereplan für das Danach habe er nicht: "Damit kann ich das abschließen und meine Geschichte den Menschen hinterlassen. Das hört sich jetzt total kitschig an, ist aber so. Und ich kann mich auch von dem kleinen stotternden Jungen verabschieden."

Unheilig, Samstag, 16. Mai, 18.30 Uhr, Zenith (ausverkauft)

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