Pop:Trostpflaster für das kreative Digitalprekariat

Pop: Große Popgesten mit düsteren Bässen: Die Künstler, die James Hinton auf seinem Album zusammenbringt, fühlen sich geschmeichelt.

Große Popgesten mit düsteren Bässen: Die Künstler, die James Hinton auf seinem Album zusammenbringt, fühlen sich geschmeichelt.

(Foto: Domino)

Der amerikanische Produzent James Hinton alias The Range findet auf Youtube übersehene Gesangstalente.

Albumkritik von Jan Kedves

Pro Minute werden bei Youtube 300 Stunden neues Videomaterial hochgeladen. Wer soll sich das alles ansehen? Die Frage ist irrelevant für diejenigen, die Videos von sich - singend, tanzend, rappend - auf die Plattform stellen. Jeder ist ja überzeugt davon, dass er Millionen Klicks verdient hat, und einige Pop-Karrieren haben so tatsächlich schon angefangen: Die Rockband OK Go ist berühmt, seit sie ihre ulkigen, auf Viralität optimierten Youtube-Videos dreht, zuletzt lud Alex Diehl aus Traunstein im Schock über die Pariser Terroranschläge vom November "Nur ein Lied" hoch und kam damit in den Vorentscheid zum Eurovision Song Contest. Dass das eigene Video, wie Milliarden andere, bei mickrigen 40 Plays herumdümpeln könnte, damit rechnet im Moment des Uploads niemand. Youtube ist eine der größten Hoffnungs-Vernichtungs-Maschinen dieser Tage.

Genau diese Hoffnungs-Vernichtungs-Maschine hat der aus Providence, Rhode Island, stammende Produzent James Hinton alias The Range nun genutzt, um an Sample-Material für sein gerade erschienenes, ausgezeichnetes Album "Potential" (Domino) zu kommen. Ein hipper amerikanischer Bassmusik-Tüftler sucht mit einem von ihm selbst entwickelten Algorithmus auf Youtube Gesangs- und Rap-Darbietungen, die besonders wenige Plays haben. Es wirkt, als wolle Hinton die Amateure und Halbprofis vorführen, deren Audiomaterial er - zunächst ungefragt - samplet und verarbeitet.

Bei der Platte "Potential" war's wie beim Casting. Doch die Sänger mussten sich nicht erniedrigen

Doch das Gegenteil ist der Fall. Es geht dem 28-Jährigen um den Blues enttäuschter Hoffnungen, einerseits. Andererseits will er das im Audiomaterial der Videos steckende Potenzial herausarbeiten. Es ist tatsächlich vorhanden, nur war es bislang unerkannt geblieben: Trugen die Performer das falsche Outfit? War die Auflösung zu schlecht? Der fein ziselierte Track "Florida" auf dem Album wird etwa getragen vom honigsüßen R&B-Gesang der Teenagerin Kai Mars aus Brooklyn, New York. Ihr Video hatte bislang 56 Plays, Hinton macht mit hypernervösen Percussions und karibischen Steeldrum-Sounds einen kleinen Pophit daraus. Für "1804" nimmt er den Gesang von Damon "Naturaliss" Gordon, einem Gefängniswärter aus Kingston, Jamaika, der sich in hochspirituellem Patois "Beistand und Segen" erbittet. Seine Stimme wird jetzt von gut gelaunten Klavierakkorden und Breakbeats untermalt, was überraschend gut passt.

Hinton kehrt auf seinem Album das Prinzip um, mit dem heute Mainstream-Pop produziert wird: In der Regel perfektionieren Produzenten im Studio zunächst einen instrumentalen Track, mit Harmonien und Beats, erst dann wird der Gesang eines möglichst berühmten Stars hinzugegeben. Hinton entscheidet sich erst für eine bereits existierende Vokalspur, dann ergänzt er Rhythmus und Sounds. Der Track soll zur Stimme passen, nicht andersherum. Das erfordert vom Produzenten viel mehr Einfühlungsvermögen.

Auch das Prinzip von TV-Shows wie "The Voice" stellt Hinton auf den Kopf: "Potential" wirkt wie ein nachträgliches, ungleich sympathischeres Casting-Format. Die Vokalisten wurden "erwählt", mussten sich aber nicht erst auf eine ermüdend dramatisierte Knock-out-Routine einlassen oder Songs singen, die ihnen nichts sagen. Dass sie sich nun auf einem Album versammelt finden, das elegant den Spagat schafft zwischen großen Popgesten und teils düsterer, gespenstisch anmutender Bassmusik, das scheint keiner von ihnen schlimm zu finden. Im Gegenteil: Sie fühlen sich geschmeichelt.

Dieses Album ist ein Trostpflaster für das kreative Digitalprekariat

Das ist zumindest der Eindruck, der sich in dem halbstündigen Film vermittelt, der "Potential" begleitet. Daniel Kaufman, ein Regisseur aus Los Angeles, hat für ihn unter anderem Kai Mars in Brooklyn, Damon "Naturaliss" Gordon in Kingston und den Rapper Ophqi in Brixton, London, besucht. Ophqi lud seine Raps, die von Hinton für den dystopischen Grime-Track "Skeptical" verwendet wurden, vor vier Jahren auf Youtube. Aus der Karriere wurde nichts. Erfreut darüber, dass seine Reime nun doch noch Beachtung finden, aber auch halb desillusioniert zuckt Ophqi im Interview mit den Schultern und sagt, er habe sich schon immer wie ein Underdog gefühlt. Sein Wunsch sei es aber immer gewesen, "nicht einfach nur irgendwer, nicht einfach nur Kanonenfutter" zu sein.

Erfolglosigkeit, geplatzte Träume: Solche Themen sind im Pop sonst eher schwer zu vermitteln. James Hinton gelingt es, sie in ein Konzeptalbum zu gießen, das poppig ist, das andererseits aber auch nie den Eindruck erweckt, als verspreche es seinen Protagonisten nun die lang ersehnte, ganz große Pop-Karriere. "Potential" ist eher ein Trostpflaster für die unsung heroes des kreativen Digitalprekariats, für jene, die Youtube beständig mit ihren Hoffnungen befüllen. Und doch ist es auch viel mehr - nämlich ein exzellentes Album, das man sich gerne anhört. Keine kleine Leistung.

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