Politischer Journalismus und offener Wahnsinn:"Wir malen hier bloß die Bilder ab"

"Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues": Falls Sie von Politik und Palaver genug haben, müssen Sie schon selber abschalten. Von den Medien können Sie das nicht verlangen. Ein Frontbericht

Marcus Jauer

Man kann sich nicht für alles interessieren. Manche Dinge laufen an einem vorbei, aber so lange sie laufen, genügt einem das. Man will nicht wissen, was der Strom macht, wenn er in der Dose steckt, so lange er fließt, wenn man abends fernsehen will. Man will auch nicht wissen, was die Vögel letzten Sommer in Asien getrieben haben, so lange sie einem jetzt im Stadtpark nicht mit Grippe entgegenlaufen. Bis vor kurzem wollte man nicht mal wissen, was im Kopf von Dieter Thomas Heck vorgeht. Aber so ist das ja immer. Für die meisten Dinge interessiert man sich nur, wenn sie nicht mehr funktionieren.

Politischer Journalismus und offener Wahnsinn: undefined

In den ersten Tagen nach der Bundestagswahl hieß es, der politische Journalismus funktioniere nicht mehr. Das war einem noch gar nicht so aufgefallen. Aber wenn es wirklich stimmt, ist das natürlich ein Problem. Politischen Journalismus braucht man ja jeden Tag.

"Wir malen hier bloß die Bilder ab"

Ein Morgen in Berlin. Hundert Reporter belagern eine schwere Holztür. Sie gehört zu einem klassizistischen Bau, der dem Reichstag gegenüberliegt und in dem sich die Abgeordneten einen Club eingerichtet haben, den sie "Parlamentarische Gesellschaft" nennen. Darin sitzen Angela Merkel und Guido Westerwelle seit einer halben Stunde zum Sondierungsgespräch, obwohl es nichts zu sondieren gibt, weil es für eine gemeinsame Regierung nicht reicht. Es gibt also eigentlich auch nichts mitzuteilen. Trotzdem stehen vor der Tür Fotografen, Kameraleute und Journalisten und warten.

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Der Mann von Phoenix erklärt der Reporterin vom Focus, die Deutschen würden gerne nochmal wählen. "Die sagen, diesen Scheiß wollen wir nicht mehr." Ein Mann vom Radio befragt eine Studentin, die im Trikot der jamaikanischen Nationalmannschaft erschienen ist. Die Herstellerfirma bezahlt sie dafür, dass sie Politikern ein Hemd übergibt. Westerwelle hat eins genommen, sagt sie, streicht sich über die Brust und meint: "Allerdings ohne Inhalt." Ein Kameramann vertreibt eine Reporterin, die vor ihm steht, mit dem Satz: "Ich krieg' 'nen Harten." Ein Pressesprecher der CDU versucht für den Mann von der FAZ eine Gasse in den Pulk zu schieben, scheitert aber an sechs schwäbischen Touristinnen, die für die überregionale Presse auf keinen Fall weichen wollen. "Wir stehen auch schon lange da", sagen sie. Dann kommt Merkel. Ihre Stimme geht im Klicken der Kameras unter. Hinten brüllen Touristen: "Lauter!" Vorn schreit die FAZ: "Ruhe!" Der Mann vom Spiegel sagt: "Mit Zivilisten kann man nicht arbeiten!" Die Frau vom Fernsehen fragt: "Würden Sie aus Verantwortung für das Land auch darauf verzichten, Kanzlerin zu werden, Frau Merkel?"

Wenn das jetzt schon politischer Journalismus war, lässt sich schwer sagen, ob er funktioniert. Es lässt sich ja noch nicht mal sagen, wie er funktioniert.

"Wir malen hier bloß die Bilder ab"

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Bisher hatte man immer gedacht, man begreift die Dinge am besten aus der Distanz. Das trifft auf den politischen Journalismus nicht zu. Aus der Distanz versteht man da nichts. Wahrscheinlich muss man näher ran. Mitten rein.

Am Montag tagen die Parteivorstände und die Reporter stehen vor den Zentralen. Am Dienstag sind sie im Reichstag, weil die Fraktionen tagen. Am Mittwoch belagern sie die Holztür, weil es wieder Sondierungsgespräche gibt. Am Donnerstag und am Freitag begleiten sie den Wahlkampf in Dresden. Am Sonntag berichten sie vom Ergebnis. Am Montag stehen sie wieder vor den Parteizentralen.

Man erfährt, dass Christian Wulff von der CDU sich einen Bugatti Veyron als Dienstwagen wünscht, mit 1001 PS und 450 Spitze. Er fragt sich nur: "Wo bringt man da die Landesflaggen an?"

Man steht neben Andrea Nahles von der SPD, als sie hört, dass ein Magazin berichtet, sie wolle Generalsekretärin werden. Da laufe eine "Riesensauerei", ruft sie in ihr Handy, "irgendein Arschloch" müsse was durchgestochen haben.

Man beobachtet, wie Dieter Dehm, der im Westen Liedermacher war, bevor er im Osten zur PDS kam, direkt vorm Reichstag parkt, weil er jetzt Abgeordneter ist und seinen Skoda Superb dabei mit einer Geste fernverriegelt, als sei der Skoda eine richtige Limousine. Man geht zu Terminen, wartet vor Absperrungen, steht herum. Wagen fahren vor, Leibwächter steigen aus, Auftritt, Mikro, Frage, Antwort, Abgang, Tür.

Nach ein paar Tagen hat man plötzlich das Gefühl, dass auch im eigenen Leben unglaublich viel passiert.

An einem Tag geht es um die "Israel-Lösung". Sie besagt, dass man die Kanzlerschaft teilt. Erst Schröder, dann Merkel. So könnten beide bleiben. Anders als bei der Lösung "Glienicker Brücke", um die es zuvor gegangen war. Sie besagt, dass beide ausgetauscht werden. Die SPD hat angedeutet, sie kann sich "Israel" vorstellen. Die Reporter fahren nun zur Zentrale der CDU und bauen ihre Kameras auf. Die Ministerpräsidenten Rüttgers, Koch und Wulff steigen aus den Wagen und sagen, dass sie "Israel" für Blödsinn halten. Die Reporter fahren ein paar Straßen weiter vor die Zentrale der SPD, bauen ihre Kameras auf und erzählen jedem, der hineingeht, dass die CDU gesagt habe, "Israel" sei Blödsinn.

So geht das hin und her. Mit einer Frage kommt man hier locker durch den Tag. Jede Äußerung erzwingt eine weitere, immer gibt es ein Thema, immer ist jemand am Zug. Aus der Distanz ist dieser Journalismus schwer zu verstehen. Aus der Nähe aber ist seine Logik ganz und gar unausweichlich.

Peter Hahne sitzt in seinem Büro, das Unter den Linden liegt. Man muss sagen: er freut sich. Es passiere ganz viel im Moment, alles sei möglich, und er sei für das ZDF dabei. Er freut sich sogar wie ein Kind, das ist regelrecht rührend. Wenn er im Reichstag steht und wartet, dass man ihn live in die Sendung schaltet, reißt er gern noch einen Scherz. Er sagt zum Beispiel: "Man müsste jetzt einfach mal behaupten, dass Joschka Fischer in die CDU eingetreten ist." Immerhin war er am Wahlabend so mutig, Angela Merkel mit "Frau Bundeskanzlerin" anzusprechen. Er hatte die Umfragen gesehen in den Wochen davor und von den Leuten aus der CDU gehört, die Stimmung sei großartig wie nie. Darauf hat er sich verlassen. Wie viele andere Journalisten. Er hätte sich auch auf sein Gespür verlassen können. Aber das sagte ihm in diesem Fall dasselbe. "Man konnte sich nichts anderes vorstellen", sagt Peter Hahne in seinem Büro. Nach der Wahl konnte er sich dann eine Koalition aus CDU, FDP und Grünen vorstellen. "Jamaika, das wäre das absolut Neueste gewesen", sagt er, "die exotische Geschichte". Nun ist eben "Israel".

"Wir malen hier bloß die Bilder ab"

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"Man hätte die Politiker auch drei Wochen in Ruhe lassen können. Wahrscheinlich wären sie sich schneller einig geworden", sagt Hahne. Er wird nun nachdenklich, er ist ja auch Theologe. "Nur, dann wären wir Journalisten ja unnötig." Das ist nun etwas, das man sich nicht vorstellen kann! Es gibt diese ganzen Sendungen. Frühstücksfernsehen, Mittagsmagazin, Abendschau, Nachtjournal, dazwischen Nachrichten zur vollen Stunde und Liveschalten zu jeder Zeit. Da muss gesendet werden. Wurde ja auch.

Ein Team von Stern-TV heuerte Jamaikaner an, die sich vor dem Reichstag als die neue Bundesregierung ausgaben und Politiker anfielen. Der Journalist einer Wirtschaftszeitung rief die jamaikanische Botschafterin Marcia Yvette Gilbert-Roberts in Berlin an, die ihm sagte, sollte eine solche Koalition zustande kommen, werde sie alle Beteiligten auf ihre Insel einladen. Die Nachrichtenagenturen schrieben die Meldung ab. Fernsehsender stritten darüber, wer auf "Jamaika" gekommen war. Jörg Schönenborn von der ARD behauptete, er habe bereits am Mittwoch vor der Wahl entdeckt, dass die Flagge der Insel schwarz, gelb, grün sei. Peter Hahne vom ZDF behauptete, der Begriff sei zuerst im "Morgenmagazin" gefallen. Am Ende wies das Dormagener Wochenblatt Schaufenster nach, dass einer seiner früheren Redaktionsleiter die "Jamaika-Koalition" erfunden hat, damals im Kommunalwahlkampf 1994. So kam dann auch der Name dieses Journalisten in die Zeitung. Keiner soll vergessen sein.

"Wir malen hier bloß die Bilder ab"

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In der Zwischenzeit bekam es die Botschaft von Jamaika, die mit Interviewanfragen überrollt wurde, mit der Angst. Sie schickte ein Fax, in dem es hieß, Jamaika wolle sich nicht in die deutsche Innenpolitik einmischen. Tags darauf stellte sich überraschenderweise heraus, dass CDU, FDP und Grüne doch keine Koalition miteinander eingehen. Jamaika war wieder eine Insel in der Karibik.

Gunter Hofmann ist politischer Journalist für die Zeit. Erst in Bonn, jetzt in Berlin. Er macht das seit dreißig Jahren. Aber er sagt, dass er so etwas wie die letzten Monate noch nicht erlebt habe: "Das Problem war, es wurde alles immer eins zu eins genommen."

Schröder kündigt Neuwahlen an, die Medien fragen sich, wie er die gewinnen will, dabei sucht er nur einen Weg, der ihn erhobenen Hauptes aus dem Kanzleramt bringt. Er zieht in den Wahlkampf, die Medien beobachten die Umfragewerten, sehen nur seine Schwächen, nicht seine Stärken und bei der Kandidatin ist es umgekehrt. So verpassen sie, wie sich die Stimmung wendet, was auch daran liegen könnte, dass viele von ihnen selbst anderer Stimmung waren. Sie wollten radikalere Reformen, ihre Leser nicht. "Aber die Leute haben sich das nicht einreden lassen", sagt Gunter Hofmann, "es hat da eine Entkopplung gegeben, zwischen ihnen und den Medien."

Kann sein, dass es sowas früher nicht gab. Andererseits war Hofmann früher einer von denen, die für die neue Ostpolitik geschrieben haben, als die Mehrheit im Land noch gegen sie war. Heute schreibt man eben für die Reformpolitik, obwohl die Mehrheit im Land gegen sie ist. Womöglich ist es nichts Neues, dass Journalisten eine Meinung haben, die sich von der ihrer Leser unterscheidet. Neu wäre nur, wenn sie sich nicht mehr von der ihrer Kollegen unterschiede.

Vor der Wahl hatte die Mehrheit der Presse das Gefühl bedient, die alte Regierung müsse weg, eine neue her. Von der linken Berliner Tageszeitung, die über das Foto des Kanzleramtes titelte: "Raus hier, aber dalli". Bis zu Springers Bild am Sonntag, die schrieb: "Rot-Grün zu dumm zum Selbstmord?"

Christoph Keese, der Chef der Welt am Sonntag, erzählte in einem Interview, er als Neoliberaler schreibe schon "seit Jahren gegen eine Mehrheit von Menschen an, die vehement gegen Kapitalismus und freie Marktwirtschaft eintreten". Ihm ging es offenbar auch darum, die eigenen Leser zu besiegen. Hans-Ulrich Jörges, Chef des Berliner Stern-Büros, glaubte nach dem Fernsehduell, Schröder sei "wie gelähmt - der Mann von gestern", Merkel habe ihn "brillant entzaubert". Jörges' Lebensgefährtin, die Moderatorin Christiane Gerboth, hat das angeblich anders gesehen. Ihre Meinung hätte die CDU eher nicht auf ihre Internetseite stellen können, Jörges' schon.

Am Wahlabend schimpfte der Kanzler so laut auf "vermachtete Medien", dass sich ein Reporter noch zwei Tage danach erst getraute, ihm eine Frage zu stellen, nachdem er ihn gefragt hatte, ob er ihm eine Frage stellen dürfe. "Sehen Sie, es hat schon angefangen zu wirken", sagte Schröder. Als er zwei Tage später eine Ausstellung des Malers Jörg Immendorff eröffnete und ihm dort die Reporter überallhin nachliefen, sagte er, das möge er nicht, wenn jemand hinter ihm stehe und ständig mitschreibe. Da antwortete ein Reporter: "Wir malen hier bloß die Bilder ab." So schnell war die Wirkung verflogen. In manchen Zeitungen erschienen nun Artikel, die erklärten, dass in Wahrheit die Medien die Wahl verloren hätten, und in manchen erschienen Artikel, die erklären konnten, warum das alles doch nicht stimmt. Die Rechthaberei dieser Leute ist immer wieder die gleiche Rechthaberei. Auch diese Logik ist ganz und gar unausweichlich.

Es ist wie in Samuel Becketts Roman "Murphy". Der erste Satz darin lautet: "Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues."

So geht es hin und her. Jeder Bericht erzwingt den nächsten, immer gibt es ein Thema, immer ist jemand am Zug. Nur so, nicht anders kann es weitergehen. Es gibt diese Shows, Sendungen, Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Es gibt leere Seiten, Kassetten und Bänder. Es muss weiter geschrieben und gesendet werden. Dieser Text ist da keine Ausnahme. Es gab den Platz dafür.

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