Politische Philosophie:Über den Subalternen sprechen

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In seinem neuen Buch analysiert Achille Mbembe die Rhetorik des Rassismus und seine Entstehung aus den liberalen Werten Europas.

Von Andreas Zielcke

Es ist ja nicht so, dass Europäer ihre verheerende Rolle bei der Sklaverei und der Kolonisierung noch herunterspielen würden. Kein neueres globalgeschichtliches Werk, das sich nicht wie etwa die von Wolfgang Reinhard herausgegebene "Geschichte der Welt: 1350 - 1750" (C. H. Beck und Harvard University Press 2014) dem düsteren Kapitel ausführlich widmen würde. Und doch ist es das eine, wie Europa und der Westen diese Vergangenheit aufarbeiten, das andere aber, wie es diejenigen wahrnehmen, die selbst zu den Nachfahren der Versklavten und Kolonisierten gehören. Für die einen ist es Historiografie, für die anderen ein Dämon, der sie noch immer heimsucht und bis in die Tiefen ihrer Seele quält.

Die berühmte Aufforderung, die Jean-Paul Sartre Anfang der 60er-Jahre seinem Vorwort zu Frantz Fanons Buch "Die Verdammten dieser Erde" beifügte - "Europäer, öffnet dieses Buch und begebt euch hinein" - gilt für alle bedeutenden Schriften schwarzer und afrikanischer Autoren, die von diesem nach wie vor auf ihnen lastenden Unheil berichten. Wobei "berichten" meist ein Euphemismus ist. Viele ihrer Bücher changieren heftig zwischen faktentreuer Wahrheitsfindung und emotionaler Rechenschaft, um der fortwirkenden Erniedrigung Ausdruck zu verleihen, aber auch der Anstrengung, davon loszukommen. Zu den Vertretern dieser gebrochenen Erfahrungs-, Wut- und Emanzipationsliteratur, die in Afrika und Amerika von Fanon, Aimé Césaire, Chinua Achebe oder Wole Soyinka bis zu Ta-Nehisi Coates reicht, gehört auch Achille Mbembe.

"Neger" steht für Mbembe für alle unterprivilegierten und ausgebeuteten Menschen

Für seine "Kritik der schwarzen Vernunft", ein eindringliches Zeugnis der afrikanischen Ambivalenz von Verbitterung und Aufbruch, hatte er 2015 den Geschwister-Scholl-Preis erhalten. Auch sein neues Buch "Politik der Feindschaft" schillert zwischen diesen Polen, weil es wieder und wieder an denselben wunden Punkten und Fragen ansetzt, an jenen Fragen nämlich, "mit denen sich außerwestliche Gesellschaften auseinandersetzen, die im Netz zerstörerischer Mächte gefangen waren - der Kolonisierung und des Imperialismus". Trotz aller politischen Dekolonisierung verfangen sich diese Fragen in einem ehernen Ring der Affekte, dem schwer zu entkommen ist.

Im Mittelpunkt steht die Zentralfigur des "Negers", die von der europäischen Kolonialherrschaft als rassistisches Zerrbild geschaffen wurde. Doch Mbembe begnügt sich nicht damit, diese fatale Imago anzufechten, die man den Schwarzen übergestülpt hat, sondern spürt den "Neger" überall in der heutigen Welt auf, also auch dort, wo es gar nicht um Hautfarbe geht, weder um schwarze noch weiße. "Neger" ist für Mbembe das Synonym für alle unterprivilegierten, subalternen, ausgenutzten Menschen dieser Welt, die auf dem Markt allenfalls für niedrige oder schmutzige Dienste gebraucht werden, wenn überhaupt.

Wirklich plausibel erscheint diese extensive Etikettierung als "Neger" nicht. Ökonomische Ausbeutung und Abwertung ist weder empirisch noch normativ dasselbe wie rassistische Entwürdigung. Allerdings legt Mbembe seinem Sprachgebrauch eine diskutable mentalitätsgeschichtliche These zugrunde. Die Praxis der Versklavung von vielen Millionen schwarzafrikanischer Menschen auf der einen Seite und die koloniale Unterwerfung fast des gesamten afrikanischen Kontinents auf der anderen Seite haben, sagt er, die westlichen Gesellschaften darin eingeübt, ganze Bevölkerungsgruppen abzuqualifizieren und Menschenverachtung als Normalität zu praktizieren.

Achille Mbembe: Politik der Feindschaft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 234 Seiten, 28 Euro. E-Book 23,99 Euro. (Foto: N/A)

Die jahrhundertelange Entrechtung der Kolonisierten konditionierte das weiße Herren- und Diskriminierungsbewusstsein über die Kolonialzeit hinaus. Wenn heute die Weltökonomie so viele Menschen zur billigen Ware degradiere oder als unnütze Wesen aussortiere, offenbare sich diese verinnerlichte und längst fraglos gewordene Missachtung und Demütigung von Unterlegenen. Aber nicht nur auf dem Markt, sondern auch dort, wo Fremdenfeindschaft Menschen ausgrenze oder als Andersgläubige herabsetze und verfolge (Juden, Muslime, Hindus etc.), sei die "conditio nigra" global geworden. Immerhin in diesem Punkt nähert sich Mbembes Etikett "Neger" wieder der ursprünglichen Konnotation an.

Nicht zufällig beschränkt er seine Diagnose auf die Neuzeit, insbesondere die antiken Sklavenhaltergesellschaften Griechenlands und Roms blendet er aus. In der Tat ist das Menschheitsverbrechen an den schwarzen Menschen nur vollständig verstanden, wenn es vor dem Hintergrund des modernen Liberalismus- und Souveränitätsanspruchs gesehen wird. Man feierte und garantierte in Europa und Nordamerika die Selbstbestimmung und Gleichheit aller Menschen - "wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden sind" (heißt es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) -, um gleichzeitig im großen Stil die "Neger" diesseits und jenseits des Atlantiks dieser elementaren Rechte zu berauben und oft schlimmer noch als Vieh zu behandeln.

Wenn es sich die Schwarzen gefallen lassen mussten, von den Weißen unterjocht und entmündigt zu werden, dann deshalb, weil sie in den Augen der tonangebenden Europäer nicht als gleichrangige Mitmenschen anerkannt, sondern zu Primitiven, zu freiheitsunfähigen Wesen, zur Handelsware herabgestuft wurden. Ein Dokument aus dem Jahr 1696 erlaubte der portugiesischen Guinea-Kompagnie, "10 000 Tonnen Neger" pro Jahr einzuführen.

Erst die Abstufung am Maßstab des vernunftbegabten Menschen macht ihre Demütigung absolut. Sie waren nicht im Unglück, weil sie als Kriegsunterlegene ihre Versklavung hinnehmen mussten wie die Besiegten der Römer, sondern weil es den weißen Herrschaften wegen der unfreien, zurückgebliebenen Natur der Schwarzen nur allzu gerecht schien.

John Locke, auf dessen Freiheitsphilosophie die amerikanischen Gründungsväter die Verfassung aufbauten, beteiligte sich finanziell an der Royal African Company, einer der großen Sklavenhandelsgesellschaften. Kein Aufklärer im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, der lautstark gegen die Versklavung protestiert hätte. (Einen guten Überblick gibt der Beitrag von Andreas Eckert "Aufklärung, Sklaverei und Abolition" in dem von Wolfgang Hardtwig herausgegebenen Band "Die Aufklärung und ihre Weltwirkung".) Die Schwarzen hatten so gut wie keinen weißen Fürsprecher, sie waren aus der Menschheitsfamilie ausgeschlossen - auch dann noch, als Sklavenhandel und Sklaverei im Westen bereits verboten waren.

Richard Francis Burton, britischer Konsul, "Afrikaforscher" und Mitglied der Royal Geographical Society, fasste Mitte des 19. Jahrhunderts die Abwertung von einer Milliarde Menschen wie folgt zusammen: "Die Erforschung des Negers ist die Erforschung primitivster menschlicher Denkvorgänge. Wenn ihm nicht jede Fähigkeit zur Fortentwicklung fehlen würde, könnte man Neger eher für eine Degenerationsform des zivilisierten Menschen als einen Wilden auf der ersten Entwicklungsstufe halten. Er ist nicht aus Edelmetall und hat auch keine Anlagen, die nach Erziehung verlangen. Er scheint zu jenen kindlichen Rassen zu gehören, die sich nie in den Rang des Menschtums erheben können. Sie fallen wie abgenutzte Glieder aus der großen Kette der lebendigen Natur."

Auch afrikanische Gesellschaften der Gegenwart haben Probleme im Umgang mit dem Anderen

Auch wenn Zitate wie dieses, von denen jeder genügend Beispiele kennt, nicht in Mbembes Buch auftauchen, sollte man sie sich ins Gedächtnis rufen, um das Ausmaß seiner trostlosen Verstörtheit wenigstens zu erahnen. Mehr als erahnen können wir sie hier auf dem hohen Ross des Nordens wohl nicht, bei allem guten Willen. Mbembe zweifelt grundsätzlich daran, ob es den Menschen jemals gelingt, den "anderen" wirklich als anderen anzuerkennen und in das humane Miteinander einzugemeinden, statt ihn als potenziellen Feind oder Untermenschen auszuschließen. Dass er auch die heutigen afrikanischen Gesellschaften mit ihrer von ihm schonungslos geschilderten Bereitschaft zur Gewalt und Despotie nicht ausnimmt, passt in das disparate Bild.

Sein vorsichtiger Vorschlag am Ende, man müsse für diese Welt, in der "alle extrem verwundbar sind", eine "Ethik des Passanten" entwickeln, eine Ethik, die sich von den Zufällen der Geburt, der Zugehörigkeit, der Ortsgebundenheit befreit, scheint mehr ein Ausdruck der leidvollen Erfahrung als eine Lösung. Eines allerdings hält er zu Recht fest: Für das erst noch zu findende neue Denken ist "Europa, das der Welt so viel gegeben und im Gegenzug - oft mit Gewalt und List - so viel genommen hat, nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt". Wie könnte auch die europäische Apotheke für das mentale Gift, das sie jahrhundertelang produziert und global verbreitet hat, allein das wirksame Gegengift liefern?

© SZ vom 16.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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