Podiumsdiskussion:Fassadenkampf

Dieses Gedicht stehe in "patriarchaler Kunsttradition", klagte der AStA der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin über Eugen Gomringers auf spanisch verfasstes Werk "Avenidas". Nun wurde darüber gestritten - und es gab überraschende Wendungen.

Von Tobias Lehmkuhl

Die Literaturgeschichte kennt das eine oder andere Gedicht, in dem Frauen und Blumen vorkommen. Dazu gehört das auf spanisch verfasste Gedicht "Avenidas" des schweizer-bolivianischen Autors und "Vaters der konkreten Poesie", Eugen Gomringer. Außer Frauen und Blumen tauchen darin noch auf: "Alleen", das Wörtchen "und", sowie "ein Bewunderer".

Das Gedicht steht nicht nur in zahlreichen Anthologien, es ziert auch, von der U-Bahn-Station aus gut sichtbar, die Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Vor sechs Jahren schenkte es der Autor der Hochschule als Dank für den an ihn verliehenen Alice-Salomon-Poetik-Preis.

Ein Brief des AStA, in dem die "patriarchale Kunsttradition" beklagt wurde, in der das Gedicht stehe, und die Forderung, die fraglichen acht Verse von der Fassade zu entfernen, lösten vor einigen Monaten einen medialen Wirbel sondergleichen aus. Christoph Hein beschimpfte die Studenten als Barbaren, andernorts wurde die Willfährigkeit der Hochschulleitung angeprangert, die inzwischen einen Wettbewerb zur Neugestaltung der Fassade ausgeschrieben hatte. Die Feinde der political correctness also wetzten die Messer, und auch in dieser Zeitung war von "Provinzialität" die Rede.

Von Gomringers "Avenidas" fühlt man sich nicht repräsentiert, darüber herrschte Einigkeit

Ein handfester Streit, so könnte man meinen, aber bei der Podiumsdiskussion, die am Dienstagabend im vollbesetzten Audimax der Hochschule selbst stattfand, war davon wenig zu spüren: Wie auch viele Wortmeldungen von Studierenden und Professoren zeigten, scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass man sich an dieser Institution, die 1908 als Soziale Frauenschule gegründet wurde und auch heute zu 75 Prozent von Frauen besucht wird, durch "Avenidas" nicht repräsentiert fühlt.

Selbst Thomas Wohlfahrt, Leiter des Hauses für Poesie, der einst die Kooperation seines Hauses mit der Hochschule beenden wollte, würde dieses Gedicht entfernen, aber ruderte, mit Brecht im Gepäck, alsbald zurück: Wer A sagt, muss nicht B sagen.

Barbara Köhler, die diesjährige Preisträgerin, bot eines ihrer Gedichte für die Neugestaltung der Fassade an, unter der Bedingung, dass es nach sieben Jahren entfernt werde. Das sei die Zeit, in der der menschliche Körper seinen Zellbestand erneuere und eine Fassade in der Regel einen neuen Anstrich benötige.

Eine gute Idee, auf die die Hochschule und ihre damaligen Rektorin vor sechs Jahren leider nicht gekommen sind: Die Kunst am Bau als temporäre Installation zu begreifen und dies auch mit dem Autor abzusprechen. So fühlte sich der 92-jährige Gomringer zu Recht vor den Kopf gestoßen, als er von den Entwicklungen in Hellersdorf hörte. Die Freiheit der Kunst, wie manche meinen, aber ist gewiss nicht in Gefahr.

Im Gegenteil, selten wurde in den vergangenen Jahren über "eines der bedeutendsten Gedichte der modernen Lyrik" (Gomringer) so lebhaft diskutiert wie über "Avenidas". Dabei könnte man auch meinen, es handele sich lediglich um ein ziemlich schlichtes Liebesgedicht.

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