Podiumsdiskussion:"Das Experiment fängt erst an"

Sind die Kammerspiele in der Krise?

Von Eva-Elisabeth Fischer

Das bewegt die Münchner. Bereits mehr als eine Stunde vor Beginn wartet am Sonntagnachmittag eine Menschentraube auf Einlass. Die Leute wollen dabei sein, wenn bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Welches Theater braucht München?" längst nicht nur um ästhetische Positionen in den Kammerspielen gerungen wird. Das Gespräch wird, wie Intendant Matthias Lilienthal das nennt, in die "Dachkammer" und in die Kantine übertragen für all diejenigen, die in der Kammer 2 keinen Platz gefunden haben. Man witzelt sogar, die Veranstaltung wegen des enormen Publikumsandrangs ins Repertoire zu übernehmen.

Dann ist ziemlich schnell Schluss mit lustig. Matthias Lilienthal und die SZ-Theaterkritikerin Christine Dössel sitzen nebeneinander links von Moderator Michael Krüger, einem listigen Frager, rechts von ihm der AZ-Kulturredakteur Robert Braunmüller sowie Kammerspiel-Ensemblemitglied Annette Paulmann. Dössel verteidigt ihr Plädoyer für die Schauspielkunst an einem bis vor kurzem bundesweit gefeierten Ensemble-Theater und weist den Vorwurf zurück, die Süddeutsche Zeitung habe mit einer ganzen Seite im Feuilleton eine Kampagne gegen Matthias Lilienthal losgetreten. Anlass für die Berichterstattung war die abgesagte Houellebecq-Premiere mitsamt Abreise des jungen französischen Regisseurs Julien Gosselin sowie die Kündigung der Schauspielerinnen Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler.

Man kann das eine wie das andere als ärgerliche, auch schmerzliche, jedoch durchaus übliche Vorkommnisse in einem Theaterbetrieb abhaken, aber genauso gut als ein Symptom dafür werten, dass hier etwas schiefläuft bei der radikalen Neuorientierung des Traditionshauses. Die gegensätzlichen Positionen lassen sich überspitzt folgendermaßen definieren: Bestens mit städtischen 30 Millionen Euro abgefedert, gefallen sich die Kammerspiele unter Matthias Lilienthal als sozialer Ort mit politischem Auftrag auf den "teuersten Quadratmetern der Stadt", wie der Intendant stolz vermerkt. Er sieht den Spielplan aus Performance, prozessualen Theaterprojekten und jeder Menge eingekaufter Gastspiele als Fortsetzung der Arbeit seiner Vorgänger Frank Baumbauer und Johan Simons. Ein Rumpfensemble dient neben einigen Eigenproduktionen als (austauschbare) Verstärkung freier Gruppen wie "She She Pop" und "Gob Squad". Zuschauerschwund? Eine Gesprächsreihe wie "Dercon &" im diskursfreudigen Theater vor leerem Haus diene dazu, so Lilienthal, "spielfreie Tage zu kaschieren".

Offensichtlich wird: Ein Theater, für das Dössel sich einsetzt, nämlich aktuelle Problematiken anhand vorhandener Stücke exemplarisch herauszuarbeiten - wobei das ja nicht unbedingt griechische Tragödien oder Shakespeare-Dramen sein müssen - spielt bei Lilienthal und seinem Team keine große Rolle. Dössel jedenfalls sucht derzeit an den Kammerspielen vergeblich nach Inhalten, nach Tiefe. Sie vermisse das Substanzielle, sagt sie, und findet: "Das Experiment ist gescheitert." "Das Experiment fängt erst an", kontert Lilienthal. Und: "Wir haben extrem andere Parameter."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: