Plattenkabinett:Udo und Gary gehen auf Nummer sicher

Zweimal wie immer und einmal das Überraschungsmenü, bitte: Udo Jürgens lässt sich von Snowden inspirieren, Gary Barlow meidet Experimente - und St. Vincent darf auf dem Thron sitzen bleiben. Das "Plattenkabinett", die Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Gökalp Babayigit

St. Vincent - St. Vincent

Man vergleiche nur die Cover von St. Vincents Alben: Wie unschuldig Annie Clark, so heißt die 31-jährige Amerikanerin eigentlich, wie verträumt sie auf "Marry Me" (2007) und "Actor" (2009) dreinblickt. Und das Cover ihres neuen Albums, das selbstbewussterweise "St. Vincent" heißt, was zeigt es uns? Eine Königin, die ihren Thron bestiegen hat, der Blick fordernd und Ehrfurcht gebietend. Also eine weitere Künstlerin, die der Hybris verfallen ist, weil sie die internationale Musikkritik seit Jahren in den Himmel und auf den Art-Rock/Indie-Rock-Thron lobt?

Die vielzitierten inneren Werte (des Albums) sind es auch im Fall von Annie Clark, die jedes Gottes- oder Kritikergnadentum ausstechen. Und was das für innere Werte sind.

Künstler, die einmal den Stempel "exzentrisch" oder "verschroben" verpasst bekamen, haben es nicht leicht. Ihre Musik wird als experimentell und als sperrig verschrien - letzteres im Übrigen oftmals zurecht. Annie Clark ist eine fabelhafte Ausnahme von dieser Regel. Ihrer Musik auf "St. Vincent" haftet nicht das Verkopfte an, das oft mit dem Experimentellen einhergeht. Sie hat etwas "Auf-zu-neuen-Ufern"-Haftes mit einem derart zwingend zugänglichen Sound, dass man gar nicht anders kann als mitzugehen: dank des Einsatzes der Instrumente, dank der Liedtexte - und dank der Ideen, die in jedem Track in Mannschaftsstärke auftreten.

Es geht ja gleich so gut los. In "Rattlesnakes" läuft Annie Clark nackt durch die texanische Wüste, verfolgt von einer Knapperschlange, ihre Panik wird clever in die Musik gegossen. In "Birth in Reverse" dann wieder Alltag: "Oh what an ordinary day. Take out the garbage, masturbate" - ein Lied mit leichten Dance-Pop-Tendenzen, dessen eben jene Tendenzen zersägende Gitarren eigentlich nur von jenen in "Huey Newton" übertrumpft werden. Dort sind es ein stolpernder Beat und eine behutsam singende Clark, die nach der Hälfte von einem Gitarrengewitter in Grund und Boden geschreddert werden. Kann man machen - hat nur bislang keiner gemacht.

Und dass Annie Clark neben ihrem Forschergeist und ihrer Begabung für zahllose Instrumente auch eine wundervolle Stimme hat, hört man in "I prefer your love", das fast wie eine Verbeugung vor Tori Amos klingt.

Ist Annie Clark mit "St. Vincent" also der Hybris verfallen, war die Frage. Nein, sie sitzt zurecht auf dem Thron.

Wem schenken? Der Kunstgeschichte-Doktorandin, die man beeindrucken will.

Wenn die Platte ein Hashtag wäre, dann: #folgtannieclark

Fürs Partygespräch: Die Band klingt wie eine Kreuzung dieser drei Bands: Tori Amos, Fiona Apple und Annie Clark

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Gary Barlow - Since I saw you last

Meine Güte, was hat man sich lustig gemacht über Gary Barlow! Er war der Verlierer nach dem Ende von Take That, dieser am Ende größenwahnsinnigen Boygroup. Robbie Williams war der Mann mit der erfolgreichen Solo-Karriere - doch Gary Barlow, der doch immer als der schöpferische Kopf dieses Herzensbrecher-Vereins galt, der guckte in die Röhre. Wieso eigentlich? Wieso musste der Mann, der uns alle überlebende Hits wie "Back for Good" schrieb, so viel einstecken?

Ach, eigentlich ist das egal. Vorbei, Vergangenheit. Heute ist Gary Barlow ein gemachter Mann auf der Insel. Wiedervereinigt mit den Take-That-Jungs (ohne Robbie), Auftritt bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London, Jurymitglied bei X-Factor, angekommen und akzeptiert im Establishment. Dieser neue Gary Barlow hat ein neues Album aufgenommen, es heißt "Since I saw you last".

Zugegeben, es fällt schwer, sich in Gary Barlow hineinzuversetzen. Aber eine Frage bewegt dann doch: Was machst Du für ein Album, wenn Du nach dem Erfolg der Take-That-Jahre in ein Loch fällst, zeitweise ohne Plattenvertrag dastehst, Dich dann aufrappelst und es doch wieder "nach ganz oben" schaffst? Schreibst Du für dieses neue Solo-Album um Dein Leben, versuchst Du, was Dir keiner zugetraut hätte, gehst Du Wege, die Du noch nie gegangen bist? Oder gehst Du auf Nummer sicher?

Gary Barlow ist auf Nummer sicher gegangen, und es ist doch nur menschlich. Man kann ihm gar nicht richtig böse sein. In "Requiem" verneigt er sich brav vor Paul McCartney, indem er versucht, so zu klingen wie der Beatle. Für "Let me Go" und "Small Town Girls" sollte er ein paar Pence pro Album an Mumford & Sons abdrücken - dafür, dass die Truppe wieder den Folk (oder das, was der Radiohörer darunter versteht) in den Mainstream gelenkt hat. Und "Face to Face" klingt wie Elton John 1983 (von der "Too Low for Zero" oder so) und nicht wie Gary Barlow 2014, was freilich auch am mitsingenden Elton John liegt.

Dass er auch zu Mutigerem, Besserem fähig wäre, lässt Barlow aufblitzen: "Dying Inside" ist ein todtrauriges Lied, dem echte, große Gefühle vorausgehen.

Er könnte wohl, wenn er wollte. Gary Barlow mag heute mit beiden Beinen im Leben stehen, doch es scheint, dass er für die Vergangenheitsbewältigung noch dieses Album gebraucht hat. Im Track, der dem Album dem Namen gibt, "Since I saw you last", singt er:

"I know your heard/ My shout for help/ For those who stood and watched/ Go f*** yourself"

Wem schenken? Der Cousine Ende 30.

Wenn die Platte ein Hashtag wäre, dann: #garymachtweiterwiebisher

Fürs Partygespräch: Die Band klingt wie eine Kreuzung dieser drei Bands: Take That, Elton John und ein McCartney-Imitator

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Udo Jürgens - Mitten im Leben

Er will der Mann des Volkes sein, Geschichten aus der Mitte der Gesellschaft erzählen, mit beiden Beinen im Leben stehen, sich auch die neuen Themen - weiß nicht, NSA zum Beispiel - vornehmen. Themen also, die die Welt bewegen.

Aber damit da keine Missverständnisse aufkommen: Udo Jürgens ist nicht von dieser Welt.

"Mitten im Leben" ist das 53. Album des 79-Jährigen, 1000 Lieder hat er schon (mit-)komponiert, seine diesjährige Tour wird seine 25. sein.

Was kann der gebürtige Österreicher noch besingen, was er nicht schon Dutzende Male besungen hat? Ein schneller Blick über die Liedabfolge zeigt: Jürgens hat wieder viel über das Leben und viel über die Liebe im Gepäck. "Alles aus Liebe", "Wohin geht die Liebe, wenn sie geht", "Liebe bleibt Liebe", "Das Leben bist Du", "Mitten im Leben" heißen diesmal die Repräsentanten jener zwei Narrative, die Jürgens seit mehr als 50 Jahren am regelmäßigsten begleiten.

Apropos Begleiten: Der intensive Streichereinsatz, die groovy klingen wollenden Saxofon-Soli und das ewige Klavier sind natürlich auch auf "Mitten im Leben" regelmäßig zu hören. Sie gehören zur Rezeptur. Was 52 Alben lang funktionierte, braucht man beim 53. auch nicht mehr zu verändern.

Wer Überraschungsmomente erleben will, muss sich zunächst durch ungewöhnlich viele Imperative hören: "Lass dem Träumer den Traum, lass der Zuversicht trauen. Lass uns Leidenschaft leben mit Gefühl, lass Gewalt aus dem Spiel. Lass die Herzen regieren, und die Fäuste verlieren. Lass den Menschen die Freiheit zu irren und zu verstehen. Und lass alles aus Liebe geschehen!", heißt es beispielsweise in "Alles aus Liebe". Doch so schnell kann man all dem gar nicht Folge leisten. Es kommen in "Das Leben bist Du" schon die nächsten: "Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte, achte auf Deine Worte, denn sie werden zur Tat, achte auf Deine Taten, denn sie werden Dein Schicksal!"

Hat man das alles erledigt, kommen mit "Liebe ist Liebe" und dem dramatischen "Der Gläserne Mensch" Annäherungen an zwei sehr aktuelle Themen: eine Abrechnung mit modernen Kommunikationsmitteln, die für die Liebe nicht so gut seien wie Briefe, was der Liebe aber nichts anhaben könne - und eine Anklage gegen die massenhafte Überwachung durch die Geheimdienste.

"Zur Sicherheit Lauschangriff, wir werden voll überwacht, BND, NSA, wir alle stehen unter Generalverdacht" singt Jürgens da. Worüber kann er noch singen, hatte man sich noch gefragt, als man vom kommenden 53. Album hörte. An Edward Snowden hat man wieder nicht gedacht.

Wem schenken? Der Großtante

Wenn die Platte ein Hashtag wäre, dann: #udos53andcounting

Fürs Partygespräch: Die Band klingt wie eine Kreuzung dieser drei Bands: Udo Jürgens klingt nur wie Udo Jürgens

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