Plattenkabinett:Den Druckschmerz besiegen

Cataldo

Eric Anderson, Songwriter von Cataldo

(Foto: Riot Act Media/Hayley Young)

Mit "Cataldo" sind wir uns endgültig sicher, dass der Frühling kommt, "Real Estate" animieren zum Surfen auf Hawaii und die heiter-melancholischen "Champs" überstehen auch den schlimmsten Sturm. Neue Alben im "Plattenkabinett", der Musik-Kolumne von SZ.de.

Von Bernd Graff

Sie beschreiben Ihre Musiksammlung nur in Begriffen, in denen das Wort Terabyte eine wichtige Rolle spielt? Ihr Smartphone ist praller mit Songs gefüllt als die olle Plattensammlung Ihres besten Freundes, auf die Sie damals so neidisch waren? Sie nennen sogar die entlegensten Bootlegs Bob Dylans Ihr Eigen? Sie können nicht all Ihre Lauschzeit mit dem wirklich grandiosen neuen Album von Beck verbringen? Und jetzt? Was nun? Mit der fürchterlichen Fülle wächst natürlich die Betretenheit des Reichtums. Wo also ist der nächste Song, den man unbedingt hören will, den man überhaupt noch hören kann? Was ist noch nicht über und über besetzt mit Referenzen, auch solchen, die man selber gar nicht oder nicht mehr kennt?

Es wird also höchste Zeit für frischen Wind in Ihren Ohren. Und dafür ist das Plattenkabinett von Süddeutsche.de ja auch da. Wir pusten jeden Gehörgang durch mit nahezu Unerhörtem - und nein, wir meinen jetzt nicht die wunderbare Seite Forgotify, die von den vier Millionen Songs, die Spotify listet, genau die 20 Prozent aller Lieder anbietet, die noch NIEMALS abgerufen wurden. (Wäre das übrigens nicht auch mal eine Idee für eine Ihrer Playlisten? Spielen Sie doch einen Tag lang nur Lieder, die Sie bisher weniger als einmal gehört haben! Davon haben Sie garantiert mehr, als Sie denken, und so lernen Sie auch mal was Neues kennen.) Denn noch immer gilt: Wenn man draufdrückt, ist es ein Druckschmerz, wie schon Lothar Matthäus wusste, denn würde man dran ziehen, wäre es ein Zugschmerz.

Was aber wissen wir von Cataldo? Im Zentrum der Band steht Eric Anderson, der schon eine ganze Zeit in der Indie-Szene seiner Wahlheimat Seattle unterwegs ist, aber mit Cataldo und den ersten drei Alben nie ganz reüssieren konnte. Klar, es gibt immer Fans, vielleicht auch deshalb, weil Anderson eine gefällige Stimme hat und wirklich verdammt gut aussieht. Irgendwann während der Arbeit an dem gerade erschienenen vierten Album "Gilded Oldies" wurde Anderson gefragt, wie er sich denn bitte künstlerisch weiterzuentwickeln gedenke. Tja. Gute Frage. Die Frage nach dem Druckschmerz.

Anderson konnte sie zuerst nicht beantworten. Aber er wusste, rhythmisch sollte es bleiben, überschwänglich im Sound, dabei folkig und mit starken Drum-Beats. Über allem schwebt dazu diese sinnliche Anderson-Stimme, die eben auch neben Bläserarrangements bestehen kann. Wenn man so will, hat Anderson jetzt mit neun Songs endlich seine Antwort auf die Frage nach seiner künstlerischen Entwicklung gefunden: Er macht gut eingängigen Radio-Pop, den man vielleicht genau an jenem freien Samstagmorgen hören möchte, an dem endlich Gewissheit darüber besteht, dass der Winter endgültig vorbei ist. Dann hört auch der Druckschmerz auf zu schmerzen.

Wenn diese Platte ein Kleidungsstück wäre, dann die Sommershorts, in die man ja doch noch passt.

Wenn diese Platte ein Tier wäre, dann eine Blaustirnamazone.

Wenn die Platte eine Sportart wäre, dann eine, von der man diesen guten Druckschmerz bekommt.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Real Estate - Atlas

Nur oberflächlich betrachtet stellen die Herren von "Real Estate" so etwas wie die Hawaii-Abteilung für die Indie-Szene dar. Sie kommen aus New Jersey, arbeiten und wohnen in Brooklyn, gehören musikalisch aber definitiv an Pazifik und Westcoast. Man will bei "Atlas", ihrem neuen Album, gleich in Kalifornien lossurfen.

Die 2009 gegründete Band folgt dabei einem Gebot melodiöser Langsamkeit, glockenhell in der Stimme, aber auch ein wenig melancholisch. So, als ob man abends als Kind auf den Sonnenuntergang schaut, um am nächsten Morgen als Erwachsener wach zu werden. Es liegt so etwas wie der Abschied von der Unbeschwertheit in den Liedern, auch in ihren Texten. "Crime" etwa geht gleich los mit diesen Zeilen: "Toss and turn all night, don't know how to make this right / Crippling anxiety." Darum sollte man sich von der Gefälligkeit der perlenden Melodien und dem hübschen Tenor nicht täuschen lassen. Denn - auch hier gibt es den Druckschmerz in der Seele - Real Estate machen alles andere als Musik für den Kindergeburtstag. Im Gegenteil, dafür sind sie zu alt: "I don't need the horizon / To tell me where the sky ends", hört man auf "Had to Hear".

Aus dem Album-Rausschmeißer-Song "Navigator" kriecht einem dieser Vers ins Ohr: "I'm staring at the hands on the clock / I'm still waiting for them to stop" - warum wohl? Klar doch! Weil dann der Druckschmerz aufhört.

Wenn diese Platte ein Kleidungsstück wäre, dann das Hawaiihemd mit den Totenköpfen.

Wenn diese Platte ein Tier wäre, dann ein Wolf im Schafspelz.

Wenn die Platte eine Sportart wäre, dann diese Surf-Variation, bei der man statt Brett einen Hai verwendet.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Champs - Down like Gold

Diese beiden Herren sortiert man ebenfalls zu schnell ein: Das Gefälligkeitslabel "Folk" wird ja schnell mal aufgepappt, aber damit tut man weder sich noch den Gebrüdern der Band "Champs" einen Gefallen. "Down like Gold" heißt das Erst-Album der beiden, und den Titelsong will man sofort wiederhören, wenn er nach 3:58-Minuten ausgeklungen ist. Da steckt etwas Mönchisches drin, auch etwas von einem Marsch. Keine Ahnung, wie man soetwas hinbekommt, das Lied berührt jedenfalls sehr, was nicht zum Mindesten an den wirklich berückenden Chorstimmen liegt, die es vortragen. So etwas Heiter-Melancholisches hört man selten.

"Don't be the reason why it's cold in my heart!", singen die Gebrüder Michael und David Champion. Darauf muss man ja auch erstmal kommen. Sie stammen von den zerklüfteten Küsten der Isle of Wight. Ihr Debüt-Album "Down Like Gold" wurde auch dort während des letzten Winters in einem alten Wasserturm aufgezeichnet. Offenbar wissen die Brüder, wie sich Liebeskummer, leere Versprechungen, Verlust von Hoffnung und Beziehungsscheitern anfühlen. Denn fast alle Lieder handeln davon. Kein Wunder also, dass auf dem Cover auch noch ein tätowierter Amateurboxer zu sehen ist.

Trotzdem ist es nicht vermessen und absolut zulässig, dieses auch einfache Album schön und froh machend zu nennen. Kritikerkollegen des angelsächsischen Raums sind jedenfalls fast unisono komplett aus dem Häuschen: Mit Arcade Fire sind die Champs verglichen worden, mit Neil Youngs einfacher Poesie, mit REM, den Flaming Lips und immer wieder mit den Fleet Foxes.

Oder sagen wir so: Wer eine alte Ansichtskarte der Isle of Wight zur Hand hat, eine, auf der das graue Meer so richtig tobt und das Land im Sturm fast untergeht, der weiß zweierlei: Erstens, es gibt diese Stürme, aber zweitens hat die Insel bislang noch alle Stürme überstanden. Den Druckschmerz besiegt, gewissermaßen.

Wenn diese Platte ein Kleidungsstück wäre, dann der gute, alte, kratzige Shetland-Pulli.

Wenn diese Platte ein Tier wäre, dann ein verwundetes Känguru.

Wenn die Platte eine Sportart wäre, dann unbedingt Hammerwurf.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an. Unten finden Sie Platten, die in dieser Rubrik kürzlich besprochen wurden.

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