Plädoyer für sprachliche Vielfalt:Her mit den Akzenten!

Ob Bairisch oder Chinesisch - Deutsch mit exotischem Klang bereichert die Kommunikation. Und ist ein positives Signal: Wer mit Akzent spricht, zeigt Bereitschaft sich auf ein neues Umfeld einzulassen - und sich dort zu integrieren.

Jürgen Trabant

Der türkische Präsident Gül, der zwar nicht mehr wie sein Freund Erdogan die hiesige türkische Bevölkerung vor der Assimilation warnt, sie aber auch nicht gerade zur Integration ermuntert, hat von Deutschland Anstrengungen beim Deutschunterricht für Türken gefordert, damit diese "aktzentfrei" Deutsch sprechen lernen. Diese Forderung kann man natürlich nur begrüßen. Einerseits ist die Erlernung der Sprache des Landes, in das man auswandert, der wichtigste Schritt zur inneren Ankunft daselbst, sie ist daher unbedingt zu fördern. Und andererseits ist es ist immer erstrebens- und bewundernswert, wenn jemand eine (fremde) Sprache "akzentfrei" spricht, also die Norm - vor allem die Aussprache-Norm - einer Sprache voll erfüllt.

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Dem Schwaben Cem Özdemir hört man seine Herkunft deutlich an - wie fast allen Deutschen.

(Foto: dpa)

Der Akzent ist ja die lautliche Spur einer Erstsprache in einer Zweitsprache. Er ist die Spur der Herkunft, die man eigentlich hinter sich lassen will. Als Spur des zu Überwindenden, des Zurückzulassenden sollte auch noch der Akzent überwunden und zurückgelassen werden. Der Akzent wird daher im Allgemeinen als störend angesehen, als Zeichen des Noch-Nicht-Ganz-Angekommen-Seins. Im Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen wird er geradezu gnadenlos verfolgt: Quasi-muttersprachliche Kompetenz ist das eherne Lernziel deutscher Schulen. Früher war die Tilgung dialektaler Lautspuren - auch nichts anderes als ein Akzent - ein Lernziel der hochsprachlichen schulischen Sozialisation. Diese Spuren sind nun aber deswegen so schwer zu beseitigen, weil sie tief in den Körper der Sprecher eingeprägt sind, sie sind sicher die tiefsten, fast natürlichen kulturellen Formungen des Menschen: Schon im Mutterleib vernimmt der wachsende Mensch ja den Rhythmus und Klang der Sprache der Mutter.

Bei allem Bemühen behält man daher normalerweise etwas von diesem Klang der Erstsprache, den Akzent, wenn man eine Fremdsprache als Zweitsprache lernt, auch wenn man sie gut kann. Nur ganz wenigen sehr begabten Menschen gelingt es, jede Spur ihrer Erstsprache zu tilgen und keinen Akzent in der erlernten Fremdsprache zu haben. Aber das hat immer etwas Außerordentliches, etwas, das man vorführen kann (wie Dr. Higgins die arme Eliza Doolittle in Pygmalion und My Fair Lady) oder das man zu seinem Beruf machen kann, zum Beispiel als Lehrer oder als Spion. Aber selbst Spione verraten sich oft durch irgendein winziges Detail, und sei es auch nur, dass sie - wie in Tarantinos klugem Film Inglourious Bastards - eine falsche Gebärde machen (man spricht eben nicht nur mit dem Mund, sondern mit dem ganzen Körper, der Akzent ist also mehr als fremder Klang, er ist auch fremde Gestik, hexis).

Akzentfreiheit in einer Zweitsprache ist daher fast wie ein Wunder. Eigentlich haben nur "natürlich Mehrsprachige", also solche mit mehreren Muttersprachen, keinen Akzent in den Sprachen, die sie als Erstsprachen erwerben.

Nun sollen die türkischen Migranten, in ihrer Mehrzahl einfache Arbeiter und Handwerker und keine professionellen Sprachenlerner und -könner, ein Wunder vollbringen und allen "Akzent" fahren lassen, wenn sie deutsch sprechen. Die Forderung des Präsidenten ist natürlich völlig unrealistisch. Das kann niemand. Und sie ist auch überflüssig: Denn außer Sprachlehrer und Pedanten stört es eigentlich auch niemanden, wenn die Wörter ein bisschen anders klingen, wenn man sie nur versteht.

Wenn ich verstehe, was mein Gesprächspartner sagt, warum soll ich denn nicht gleichzeitig hören, woher er kommt? Warum soll man denn nicht hören, dass der Sprecher ursprünglich ein Türkisch-Sprecher ist oder war? Dieses Wunder der Tilgung der Herkunft vollbringen auch die meisten Deutschen nicht. Fast bei allen Deutschen hört man, woher sie kommen: Spuren des Bairischen, Niederdeutschen oder des Schwäbischen (wie bei Cem Özdemir) finden sich in dem, was sie "auf Deutsch" sagen, das ja auch bei den meisten Deutschen eine später gelernte Zweitsprache ist.

Frankreich, Amerika, Italien - die Herkunft gehört zur Person

Warum soll nicht im Deutschen der türkischen Erstsprachler ein Rest Türkisch vernehmbar sein? Adorno hat einmal vom hohen Ross der Bildungsbürgerlichkeit herab über diejenigen die Nase gerümpft, die den Namen des englischen Philosophen Hobbes aussprechen wie das Wort für etwas - ebbes - in ihrem Dialekt, das heißt er hat den (in diesem Fall hessischen) Akzent als Zeichen nicht gelungener Bildung gehöhnt. Das ist sicher so: Der Akzent ist das Zeichen der noch nicht gelungenen Ankunft in der (Zweit- oder Hoch-)Sprache und insofern der noch nicht gelungenen "Bildung". Aber er ist eben auch das Zeichen des Bildungswillens beziehungsweise des Integrationswillens. Und der ist zu loben, nicht zu verhöhnen. Das Verbleiben in der Erstsprache aber - sei es der Dialekt oder die "alte Sprache aus der Heimat" - ist die Verweigerung von Bildung oder Integration, die völlig akzentfreie Erst- und Einsprachigkeit ist tatsächlich ungebildet.

Güls absurder Forderung nach Akzentfreiheit muss daher ein Plädoyer für den Akzent entgegengehalten werden: Ich freue mich doch, wenn meine französischen, amerikanischen, italienischen Freunde mit mir Deutsch sprechen, auch wenn sie das mit ihrem jeweiligen Akzent tun. Ihre Herkunft aus Frankreich, Amerika, Italien gehört zu ihrer Person. Und sie ist auch einer der Gründe, weswegen ich mit ihnen befreundet bin. Sie sprechen oft "perfekt" deutsch, sofern sie alles sagen können - aber sie haben einen Akzent. Diese Spur ihrer Herkunft ist eine zusätzliche Dimension dessen, was sie sagen, und damit eine Bereicherung ihrer Rede. Ihre Kinder sprechen, wenn sie hier geboren und aufgewachsen sind, dann meist "akzentfrei" (beziehungsweise mit bairischem oder hessischem Akzent) deutsch, aber die hören sich dann ja auch einfach "flacher" an.

Die mit Akzent Sprechenden bemühen sich im Übrigen zumeist, der Norm der von ihnen gesprochenen fremden Sprache zu entsprechen. Und dieses Bemühen muss honoriert werden, es darf nicht durch hochmütiges Über-den-Mund-Fahren (wie es so passend heißt), Stirnrunzeln, bewusstes Nicht-Verstehen-Wollen bestraft werden. Das Insistieren auf der Akzentfreiheit frustriert gerade erwachsene Lerner von Fremdsprachen. Die Begeisterung am Sprachenlernen wird durch die Arbeit am Akzent oft geradezu zerstört: Wörter und grammatische Strukturen kann man ganz gut sogar noch in späterem Alter lernen, die Phonetik ist dagegen oft eine unüberwindliche Klippe. Also lassen wir sie doch einfach stehen, umschiffen wir sie. Niemand in Italien erwartet von einer blonden Dame, der man das Deutschsein aus weiter Entfernung ansieht, dass sie akzentfrei italienisch spricht. Dass sie aber überhaupt Italienisch lernt und spricht, das freut alle. Beim nächsten Besuch in der Pizzeria ist das einen Versuch wert.

Alle Touristen in Berlin verständigen sich mit uns auf Englisch mit den verschiedensten Akzenten. Es stört doch nicht, dass sie chinesische, italienische und brasilianische Akzente haben, es ist aber schade, dass sie englisch sprechen. Viel schöner wären alle diese Akzente im Deutschen. Also her mit den Akzenten!

Nichts ist törichter als das überlegene Lächeln von Einsprachigen oder von Sprach-Cracks, wenn ein deutscher Wissenschaftler einen englischen Vortrag mit hörbar deutscher Phonetik hält. Klar, das kann schon manchmal lustig klingen (und bei Herrn Oettinger haben wir nicht wegen des Akzents schadenfroh gelacht, sondern weil er vorher großmäulig das Englische zur Arbeitssprache für alle Deutschen erklärt hatte, das er dann so hörbar schlecht beherrschte). Aber ist es nicht großartig, dass der deutsche Professor sein Wissen in diese fremde Sprache packt, dass er seine Erkenntnisse der Welt (die ja insgesamt mit Akzent englisch spricht) in dieser fremden Sprache kundtut? Schon gar nicht lächeln sollten Amerikaner oder Briten, die zunehmend nichts mehr in einer fremden Sprache sagen können, die also auch keinen Akzent (außer ihrem jeweiligen englisch-regionalen) haben. Einen Akzent haben heißt nämlich, dass man zumindest zwei Sprachen kann: eine ohne und eine mit Akzent.

Der Autor, Jahrgang 1942, ist Sprachwissenschaftler. Er lehrt in Bremen.

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