Pianist Igor Levit im Konzert:Eigenwillige Dialektik

Igor Levit ist einer der herausragenden Klavierkünstler in diesem Jahr - und die Konkurrenz ist riesig. Bei seinem Konzert in München ließ er viele Fragen offen und machte neugierig auf seine erste CD-Veröffentlichung.

Von Helmut Maurò

Er ist einer der kommenden Klavier-Stars. So sieht es im Moment jedenfalls aus und Igor Levit, der erfolgreiche Nachwuchspianist aus Hannover, wird sich der immens großen Konkurrenz auf dem Feld klassischer Klavierkunst stellen müssen. Vor allem einer könnte ihm gefährlich werden: Daniil Trifonov, der vier Jahre später als Levit ebenfalls in Nizhni Nowgorod geboren wurde. Das war es aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten.

Trifonov ist ein überragender Techniker und ein glühend inspririerter Tastenmagier, ein Genie an der Grenze zum Wahnsinn. Levit, der schon als Kind mit seinen Eltern nach Hannover kam, spielt die interessanteren Programme und beherrscht auch technisch recht schwierige, selten gespielte Stücke, wie er bei seiner Matinee am Sonntag im Prinzregententheater wieder einmal eindrucksvoll bewies.

Vor allem das mehrschichtig verflochtene Spiel sogenannter Kontrapunktik hat es ihm diesmal angetan. Dabei geht es darum, vier oder mehr Einzelstimmen quasi gleichberechtigt auftreten zu lassen und nicht, wie ab der Zeit Haydns und Mozarts, eine Melodie in der rechten Hand mit der linken kunstvoll zu begleiten. Glenn Gould hat dieses polyphone Spiel geliebt wie kein anderer und sich am Ende fast nur noch damit beschäftigt, vor allem in den Kompositionen von Johann Sebastian Bach, der diesen alten Kompositionsstil, der zuvor in der Chormusik seine Blütezeit hatte, nun auch auf dem Tasteninstrument zur Perfektion trieb.

Igor Levit aber erinnerte daran, dass es auch nach Bach noch große Kontrapunktiker gab, und zwar bis ins 20. Jahrhundert. Zum Beispiel Max Reger (1873-1916), der als Organist gleichsam direkt beim Meister Bach gelernt hat und sich in seinen "Variationen und Fuge über ein Thema von Johann Sebastian Bach op. 81" aus dem Jahr 1904 gleichsam bei ihm bedankt mit einer gewaltigen Schlussfuge, die auch guten Pianisten einiges abverlangt.

Reger hat mehrere solcher Werke geschrieben, 1914 zum Beispiel ein Schwesterstück über den Bach-Gegenspieler Georg Philipp Telemann. Diese Schlussfuge aus Regers Bach-Variationen war der Höhepunkt eines recht wechselhaften Konzertes von Igor Levit. Hier konnte er nicht nur zeigen, was er spieltechnisch und intellektuell zu bieten hat, sondern wie sehr er Regers vertrackte Harmonik und Rhythmik verinnerlicht hat.

Großmäuligkeit statt Größe

Zuvor fiel das Stück ein bisschen auseinander in jene Variationen, in denen Levit einerseits mit harter Pranke klangstark auftrumpfen konnte oder andererseits sich sehr verhalten um leise Stellen bemühte. Beides meist mit viel zu viel Pedal. Gerade im Forte entsteht dabei statt Größe auch ganz schnell nur Großmäuligkeit, und die hatte der Pianist Levit sicherlich nicht im Sinn.

Anfangs hatte man noch den Eindruck, die Klangauffassung kam noch vom französischen Impressionisten Claude Debussy (1862 - 1918) herübergeschwommen, dessen ebenfalls höchst selten zu hörende "Six épigraphes antiques" ein bisschen untergingen in pedalgestützer Zaghaftigkeit.

Bei Debussy fehlte Levit vor allem die grundsätzliche Leichtigkeit, das Perlende, rastlos Quirlige, das flüchtig Hingetupfte. Levit ist da zu schwerfällig, wenn vollgriffige Akkorde kommen, aber auch die Einzeltöne zu Beginn waren keine funkelnden Sterne im dunklen Kosmos, sondern etwas zu groß geratene Straßenlaternen. Das Pedal kann dabei zwar dafür sorgen, dass alles nebulös verschwimmt, aber der feine impressionistische Sprühnebel, der hier gefragt ist, denn kann man damit nicht erreichen. Eher läuft man Gefahr, dass sich dicke Regenwolken zusammenballen.

Inwieweit hier spieltechnische Ursachen zugrunde liegen oder eine möglicherweise modernere, jüngere Hörauffassung, wird man sehen müssen. Levit wirkt oft wie in einer Phase des Umbruchs oder Aufbruchs, der spannenden Weiterentwicklung. Was ihm dabei am meisten entgegenkommt: Stücke, bei denen es vor allem auf Virtuosität und Kraft ankommt und einen guten Überblick. Kompositionen oder Abschnitte daraus, die Levit folglich gekonnt in die Tasten hämmern kann, manchmal auch ein bisschen grobschlächtig, ohne sich weitere Gedanken und Emotionen machen zu müssen. Dafür ist dann von vornherein kaum Platz.

In den langsameren, beschaulichen, introvertierten, introspektiven Phasen neigt Levit, zumindest von außen, zu einer gewissen Ausdrucksstarrheit. Es ist dann nur mehr ein Innehalten, aber kein meditatives, eher eine Art Schockstarre. Aber auch hierbei kann die richtige Programmwahl helfen. Max Regers harmonisch gestützte Dramaturgie etwa ermöglicht auch in dieser Statik noch eine gewisse Grundspannung.

Wirklich hin- und hergerissen aber ist man weiterhin, wenn sich Igor Levit den Klaviersonaten Ludwig van Beethovens widmet, dem Neuen Testament jedes Pianisten. Um es auf den Punkt zu bringen: Langweilig ist das in keiner Sekunde bei Levit. Diesmal ging es um Beethovens Hammerklavier-Sonate (Nr.29 in B-Dur), die zu Zeit ihrer Entstehung 1817 als völlig unspielbar galt. Erst Jahrzehnte nach Beethovens Tod hat sie der Klaviervirtuose Franz Liszt erstmals öffentlich vorgetragen, und noch Alfred Brendel, einer der renommiertesten Pianisten der letzten 40 Jahre, sagte über sie: "Nach Umfang und Anlage geht die Hammerklaviersonate weit über alles hinaus, was auf dem Gebiet der Sonatenkomposition jemals gewagt und bewältigt wurde."

Gerade dies scheint Igor Levit zu reizen, der die Sonate zwar zunächst recht nervös anging, beinahe überstürzt, sich bald aber genau jene Schwächen zunutze machte, die ihm bei Debussy und teilweise auch Reger zum Nachteil gelangten. Aus Forte-Verblüffung und Piano-Leere zauberte Levit eine dialektische Spannung, die über weite Strecken hielt. Nicht immer, nicht in jeder lyrischen Phase, nicht im Trio des Scherzos, nicht durchweg im Andante, umso nachdrücklicher im schwierigen Kopfsatz und Finale.

Er zerlegt Ornamente in Floskeln

Ein Rettungsanker war sicherlich jene Kontrapunktik, die Beethoven schon im ersten Satz auf verschlungene Weise einsetzt. Für andere vielleicht ein angstbesetztes Feld, für Levit ein willkommener Anlass, die Musik so ernst zu nehmen, wie man dies nur kann, ohne sie abzutöten. Manches, was bei Levit wie unnötige Manierismen wirkt, wie halbgare Konzepte, passte in dieser Sonate wie natürlich in dieses sehr eigenwillige und zum Teil auch sehr überzeugende Konzept.

Was man dabei vermissen könnte: Wie Beethoven einen ganzen Seelenzustand in eine kleine Phrase verdichtet, die man dann aber auch so spielen muss, als ginge es um nichts als das Echte und Wahre und nicht um aufgesetzten Ausdruck oder gar keinen. Levit hört auch solche Abschnitte eher in ihrer zeichenhaften Ästhetik. Er isoliert Motive - melodische und rhythmische, denen er offenbar nicht mehr als wirkliche Sinnträger vertraut.

Das ist das Moderne an Levit. Er zerlegt Ornamente in Floskeln und kann sie somit natürlich als reine Theaterkulisse vorführen. Dabei kann es aber passieren, dass Beethovens unausweichliche Exzentrik, das Zwingende, bei Levit auf einmal zur Exzentrik-Parodie wird. Was im Falle Beethovens weniger eine Entlarvung ist, denn der Komponist bietet ja mehr Substanz als nur eine interessante Oberfläche. Es ist eine Verharmlosung, eine kunstvolle Vernichtung, wie man sie lange nicht mehr gehört hat.

Wenn Levit im Scherzo der Hammerklaviersonate Einzeltöne in eine totale Leere schießt, dann ist das keine mit Erwartung oder Erinnerung oder Sehnsucht gefüllte Leere, sondern ein anorganisches, lebensfeindliches Vakum. Man ist gespannt auf die erste CD-Veröffentlichung Levits (als Exklusivkünstler von Sony Classical) im September. Darauf zu hören: Die letzten Klaviersonaten von Beethoven.

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