Philosophie:Zu leicht befunden

Arbogast Schmitt beschäftigt sich mit der europäischen Rationalität von der Antike bis zur Neuzeit. Jetzt prüft er die Vernunft der Aufklärung mit dem Maßstab der Philosophie des Aristoteles - und lässt die Antike das letzte Wort haben.

Von Manfred Geier

Auf der Suche nach der kulturellen Identität Europas werden verschiedene Kandidaten ins Spiel gebracht. Gern wird die christliche Tradition des Abendlandes beschworen, vor allem in Abgrenzung zu Glaubensformen des Islam. Die Aufklärung, zentriert auf den eigenen Verstandesgebrauch mündiger Bürger, wird ebenfalls als europäisches Projekt hochgeschätzt. Und seit einigen Jahren werden auch antike Denker, vor allem Platon und Aristoteles, als Gründungsväter einer europäischen Vernunft wiederentdeckt.

Vom Neuaristotelismus wird die Frage nach einem guten, glücklichen Leben und den Grundsätzen der Gerechtigkeit im Geist dieses "Lehrers des Abendlandes" zu beantworten versucht, als den ihn Hellmut Flashar in seiner großen Aristoteles-Biografie 2013 beschrieben hat. Seit der Antike ist noch nie so viel über diesen wirkungsmächtigen Philosophen geschrieben worden wie heutzutage. Die aristotelische Grundlegung eines Vernunftbegriffs, der zunächst über die Spätantike und die arabisch-persische Philosophie eines Ibn-Sina (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroes) ins Mittelalter übernommen wurde, sollte auch für uns Moderne zur Orientierung dienen.

Das ist die Programmidee des Altphilologen und Philosophen Arbogast Schmitt, Professor emeritus der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn, der seit Jahrzehnten die europäische Rationalität im Spannungsfeld von Antike und Neuzeit untersucht. Spielte dabei in seinen früheren Arbeiten Platon die Hauptrolle, so ist nun Aristoteles ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei ist es weniger der wissenschaftliche Erforscher des Kosmos und des Seelenlebens, der Logik und der Rhetorik, der Wege zum Glück und des politischen Lebens im Staat, der Schmitt interessiert. Auch die aristotelische Metaphysik als Erste Philosophie und seine Physik als Zweite Philosophie spielen nur am Rande mit.

Wesentlich kommt es Schmitt darauf an, die Grundlagen und Prinzipien der Erkenntnis freizulegen, die Aristoteles für rational und vernünftig hielt und als Fähigkeit aller Menschen, die bei Verstand sind, zu erhellen versuchte. Um die Eigenart des aristotelischen Vernunftbegriffs zu profilieren, der mit seiner universalistischen Intention eine "Brückenfunktion" in der Auseinandersetzung verschiedener Kulturen wahrnehmen könnte, hat Schmitt einen eigenwilligen, spannungsreichen Vergleich angestellt.

Was aber macht man mit denen, die nicht mitmachen wollen beim aristotelischen Vernunftgebrauch?

Was unterscheidet die Erkenntnistheorie des Aristoteles, der vor 2400 Jahren geboren wurde, von der Vernunftkritik, die seit dem 18. Jahrhundert das Denken über sich selbst aufklären will? Und worin könnte der Vorzug der aristotelischen Rationalität gegenüber der Vernunft der Aufklärung bestehen, vor allem hinsichtlich einer wünschenswerten Verständigung zwischen Orient und Okzident?

Es ist, wie er selbst feststellt, ein "schwieriges Terrain", auf das Schmitt sich begeben hat. Seine jahrzehntelange Forschung hat ihn in umfangreiche, unüberschaubar viele Textkommentare und äußerst komplexe Argumentationsverläufe verstrickt, die es schwer machten, eine klare und deutliche Einsicht zu gewinnen. Im Hin und Her zwischen antiken und aufgeklärten Vernunftkonzeptionen und -begründungen gab sich ihm schließlich ein grundlegender Unterschied zu erkennen, der vor allem den Weg von der Wahrnehmung zum Wissen betrifft: Während die Vernunft der Aufklärung die mentale "Re-präsentation" favorisiert, die im erkennenden Subjekt von den unmittelbar wahrgenommenen Dingen entwickelt werden kann, vertraut die aristotelische Rationalität auf eine "präsentische" Erkenntnisweise, die auf die Unterschiede achtet, die in und zwischen den Dingen selbst bestehen.

Moderne Repräsentationsphilosophie gegen antike Unterscheidungsphilosophie. Denken als nachträgliches Hinterherdenken dessen, was als unmittelbare Wahrnehmung voraus liegt, gegen eine direkte Erkenntnis, die Schmitt auf den Punkt bringt: "Eine jede Sache wird an ihrem Vermögen (dynamis) und ihrer Leistung (érgon) erkannt und in dem, was sie ist, unterscheidend bestimmt."

Nun ist es nicht nur seine Absicht, die einschneidende Differenz zwischen aristotelischer und aufgeklärter Vernunft klarzumachen. Schmitt will auch belegen, "dass der aristotelische Vernunftbegriff in nicht wenigen Aspekten dem Vernunftbegriff der Aufklärung überlegen ist", vor allem im Hinblick auf die schwierige Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen. Mit der präsentischen Erkenntnisform des Aristoteles vertraut er darauf, dass bereits im ursprünglichen unterscheidenden Bestimmungsakt der Dinge etwas Vernünftiges tätig ist, "das für alle, die sich dieser Art Vernunft bedienen wollen, gemeinsam gültig ist."

Doch was macht man mit denen, die dabei nicht mitspielen wollen, seien es die Menschen in anderen kulturellen Traditionen oder die Repräsentationsphilosophen der Aufklärung? Schmitts langer und verschlungener Weg durch die subtilen Argumentationen antiker und moderner Erkenntnistheoretiker hat zwar einen bemerkenswerten Unterschied erkennen lassen, aber mich nicht davon überzeugt, dass die Vernunft des Aristoteles ein Maßstab für alle sein könnte, die vernünftig sein wollen.

Arbogast Schmitt: Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016. 472 Seiten, 42 Euro.

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