Philosophie:Die große Hysterie

Tristan Garcia philosophiert in seinem neuen Buch "Das intensive Leben" über die Krise des modernen Menschen und dessen Fixierung auf intensive Erlebnisse, die ihn permanent dem Stress aussetzen, etwas erleben zu müssen.

Von Meredith Haaf

Tristan Garcia ist 36 Jahre alt, ein Schüler des französischen Philosophen Alain Badiou und offensichtlich eine Veröffentlichungsmaschine. Dreizehn Werke sind unter seinem Namen in den letzten Jahren erschienen. Sein bisher letztes, "Nous", Wir, ist ein Plädoyer für die Wiederbelebung der ersten Person Plural als politischen Bewusstseins- und Zielbildungsbegriff und bislang nur auf französisch verfügbar.

Garcia gehört zu den französischen Intellektuellen, die routinemäßig zu Kommentaren und Einschätzungen der gesellschaftlichen Situation gebeten werden. In Frankreich gilt er als einer der interessantesten Denker. Doch hierzulande ist neben einem preisgekrönten Roman nur ein Buch erschienen: "Das intensive Leben. Eine moderne Obsession". Man kann nicht sagen, dass es das Phänomen Garcia begreiflicher macht, auch wenn es darin mit allerhand intellektuellen Wunderkerzen zur Sache geht. Dabei leuchtet die Analyse, von der Garcia ausgeht, durchaus ein. Der Mensch, so schreibt er, habe sich in der Moderne der Maxime unterworfen, sich im Verlauf seines Lebens in allen Bereichen seiner Gefühls- und Leistungsfähigkeit endlos zu steigern: "Seit einigen Jahrhunderten verkörpern wir einen bestimmten Menschentypus: Menschen, die eher für das Streben nach Intensivierung als nach Transzendenz - wie das für die Menschen anderer Zeitalter und Kulturen galt - herangebildet wurden." Das Ziel des Lebens ist nichts, das auch nur ansatzweise erreichbar sein darf. Nichts ist tödlicher für den Selbstwert als die Aussage: "Ich habe alles erreicht".

Wie kann mein Leben fantastisch sein, ohne dass ich dabei zu gestresst bin?

In der postmodernen, moralisch mehr oder weniger entfesselten Gegenwart gilt uns die Lebensintensität, so Garcia, als letztes Kriterium, das bei der ethischen Bewertung eines Lebens noch zugelassen ist: "Ein einziges Gesetz leitet den modernen Prozess, in dem das Selbst über sich selbst richtet: dass das, was getan wurde, mit glühendem Herzen getan wurde." Ehebrecher, Hochstapler, Pornodarsteller, jeder kann sich heute auf das Prinzip "Hier stehe ich und kann nicht anders" berufen. Spannend und unterhaltsam liest sich die historische Herleitung, in der Garcia im ersten Teil des Buchs den Zusammenhang zwischen den Gefühlswelten und der Elektrifizierung unseres Alltages darlegt.

Dialektisch folgerichtig führt die permanente Lebensgefühls-Beschleunigung zum Absturz in die Überforderung. Garcia spricht von einer Hysterisierung der Intensität. Viele Reisen, wechselnde Lebenspartner, Extremsport, Online-Shoppen und Karrierismus, das sind die gängigen Symptome der Intensitäts-Malaise, die er diagnostiziert. Obwohl er ihn nur einmal zitiert, fühlt man sich in diesen Ausführungen immer wieder stark an die Arbeiten von Byung-Chul Han erinnert. Da ist derselbe Hang zur Beschreibung einer nie ganz wiedererkennbaren Lebenswelt, die sich mehr aus der Lektüre von Online-Magazin-Beiträgen zu speisen scheint, als aus einer real existierenden Lebenswelt. Da ist dieselbe Pseudo-Soziologie am Werk, da zeigt sich derselbe Hang zur Kursivstellung zentraler Begriffe wenn es wichtig wird und da drängt sich beim Lesenden immer wieder die Frage auf: "Was genau soll dieses Buch eigentlich?"

Nicht, dass Garcia das nicht deutlich sagt: Er will eine Ethik entwickeln, "die uns die Möglichkeit sichert, nicht die Intensität unseres Lebens gerade im Namen seiner Verwirklichung zu zerstören." Das Ergebnis geht aber leider in Richtung Absolventenredenprosa: "Die Kraft des Lebens ist etwas sehr heikles. Um sich so lange wie möglich lebendig zu fühlen, muss man sich auf den Kammlinien der Ideen und Empfindungen halten und erreichen, dem Taumel der Lebensbejahung nicht nachzugeben und auch nicht in den Abgrund der Lebensverneinung zu stürzen."

Garcia auf schwarz für ipad

Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 215 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.

Das liest sich eher wie die glorifizierte Version einer dieser Lebensweisheitskärtchen, die viele Menschen auf Facebook teilen, wenn sie gerade ein Moment der Introspektion erwischt hat, als wie eine Theorie zum guten Leben. Vielleicht ist dieses Defizit aber auch in dem Leben begründet, das Garcia entwirft. Er ist nicht der erste französische Philosoph, der sich mit Intensität auseinandergesetzt hat, zu seinen Vorgängern zählen unter anderen Gilles Deleuze und Jean-François Lyotard. Zu dessen wichtigsten Werken zählt "Intensität", Garcia zitiert es nicht mal in seiner Literaturliste. Das passt zu einer auffälligen Leerstelle, dem völligen Verzicht darauf, die soziale Dimension von Intensität zu erörtern.

Lyotard, Deleuze oder auch Susan Sontag arbeiteten mit der Intensität hingegen als einem sozialen Versprechen von Kontakt und Bewegung hin zu einer sinnlicheren und gerechteren Gesellschaft. Garcias intensiver Mensch aber hält sich aus allem heraus. Kein Wunder, dass seine Ethik so leblos wirkt, antwortet sie doch nur auf die Frage: Wie kann mein Leben fantastisch sein, ohne dass ich zu gestresst bin? Dass uns die Gegenwart längst dringendere Fragen stellt, würde man aus der Lektüre dieses so dringlich auftretenden Buches niemals erahnen.

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