Philosophie:Depressiver Narzissmus

In seinem neuen Buch "Negative Moderne - Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts" erkundet Sven Hillenkamp die dunkle Seite der Freiheit - und schreibt versehentlich ein Manifest für die Generation Millennial.

Von Jens-Christian Rabe

Wir leben in wilden Zeiten: all die nicht enden wollenden Finanz- und Wirtschaftskrisen, die Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten, der islamistische Terrorismus, der Aufstieg nationalistischer Parteien und Bewegungen, die allgegenwärtige Überwachung, der Neoliberalismus, der Kapitalismus, die Technologisierung des Alltags - kein Wunder, dass längst fast jeder deutsche Buchverlag einen hauseigenen Kulturkritiker beschäftigt, den weniger die penible Erforschung der komplizierten Details unserer grässlichen Gegenwart quälen, als die Frage, was daran eigentlich die Qual für jeden Einzelnen ist. Und unter deren Augen noch die letzte Errungenschaft der Moderne zu einem pathologischen Problem wird. Also etwa die Beschleunigung (Hartmut Rosa, Suhrkamp), die Zivilisierung der Instinkte (Robert Pfaller, S. Fischer) oder auch einfach nur das Transparenzgebot (Byung-Chul Han, ebenfalls bei Fischer).

Beim Stuttgarter Klett-Cotta Verlag hat die Populäre-Kulturkritik-Planstelle seit einer Weile der in Stockholm lebende Essayist und Schriftsteller Sven Hillenkamp inne, der nach "Das Ende der Liebe" (2012) nun mit "Negative Moderne - Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts" den zweiten Band seiner auf vier Bände angelegten Untersuchung über die "Zwänge der Freiheit" vorlegt.

Die "negative Moderne" ist für Hillenkamp dabei das zweite Gesicht der Moderne, das er gegenüber der seiner Ansicht nach überbewerteten "positiven Moderne" ins Recht setzen will. Denn schon ein Blick auf die Arbeitslosen am Berliner Landwehrkanal zeige, dass die Moderne nur vordergründig das Gesetz der Steigerung, der ewigen Positivität präge, das Gesetz von "Überfüllung, Überdeterminierung, Überstrukturierung, Überflutung". In der negativen Moderne des Lebens am Landwehrkanal herrsche dagegen "Wertlosigkeit, Strukturlosigkeit, Unfähigkeit, Möglichkeit, Bezuglosigkeit". Wie schon in "Das Ende der Liebe" geht es also um die dunkle Seite der Freiheit als vielfach erlebte, theoretisch jedoch sträflich vernachlässigte Erfahrung der Moderne: Man frage sich immer, was passiert sei, nie aber, was NICHT passiert sei, obwohl uns doch womöglich - so Hillenkamps Grundannahme - das, was nie geschehen ist, tiefer gezeichnet habe, als alles, was geschehen sei.

Interessant macht das Buch das, was man vielleicht selbstbewusste Weinerlichkeit nennen kann

Das klingt wahrlich philosophisch, gewinnt jedoch Kontur durch zwei bemerkenswerte Abgrenzungen. Die dunkle Seite der Freiheit soll beim Hillenkamp nämlich weder bloß die manifeste materielle Armut sein, noch allein die gute alte spirituelle "innere Leere". Die beiden seien theoretisch hinreichend abgehandelt. Es geht ihm vielmehr um Negativitäten, die der Einzelne nur durch seine soziale Verbundenheit und Abhängigkeit erfährt: mangelnden Selbstwert, mangelnden zeitliche Strukturiertheit, mangelnde Motivation, mangelndes Können, mangelnde Verwirklichung seiner Möglichkeiten. Um deren vertiefte Erkundung drehen sich denn auch die fünf Hauptkapitel.

Philosophie: Sven Hillenkamp: Negative Moderne. Moderne Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 384 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Sven Hillenkamp: Negative Moderne. Moderne Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 384 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

In ein theoretisches Zwischenreich jenseits von Soziologie, Ökonomie und Psychologie wird man hier also entführt. Und das erscheint als Behauptung zunächst schon erstaunlich. Aber dann hat man es doch wieder einmal eher mit einem Mantra zu tun als mit erkenntnisstiftender Philosophie. Und wie so oft zeigt das schon der Stil dieses Denkens.

Dieser Stil ist nämlich mindestens gewöhnungsbedürftig. Nicht allerdings in dem Sinn, in dem Bücher aus Philosophie oder soziologischer Theorie oft gewöhnungsbedürftig sind, weil die Erkenntnisse, die sie entfalten, in einer ganz eigenen Sprache abgefasst sind, die man während der Lektüre erst mit erlernen muss. Um Kant zu verstehen, Hegel, Habermas oder Luhmann, muss man bis zu einem gewissen Grad Kantisch, Hegelianisch, Habermasisch oder Luhmanisch lernen. Das ist bei Hillenkamp nicht der Fall, ein Hillenkampisch gibt es nicht, eher einen informierten Plauderton. Die Analyse kennt jedoch keine Entwicklung. Man schleicht mit dem Autor immer wieder von neuem um die fünf Negativitäten herum.

Passend dazu sind die Kapitel des Hauptteils in sich - oft schon nach weniger als einer Seite - nur durch viele unnummerierte Zwischenüberschriften unterteilt, die die Lektüre eher poetisierend begleiten als klärend strukturieren: "Hautlosigkeit", "Liebe deinen Nächsten", "Die Ontologisierung der Geschichte", "Alterozentrik".

Wie man eben überhaupt bald den Eindruck nicht mehr los wird, dass man es - beim Hillenkamp-Förderer Byung-Chul Han ist es ganz ähnlich - mit jenem Typ philosophischer Schriftstellerei zu tun hat, die im Grunde nicht versucht, den Leser durch Argumente zu überzeugen, sondern ihn im substantivlastigen Hauptssatz-Stakkato eher Befunde beschwört, die er besser schon für weise hält, bevor er das Buch überhaupt zur Hand nimmt: "Die Kultur muss das menschliche Handeln motivieren und organisieren", heißt es beispielsweise, "denn der instinktlose Mensch handelt nicht aus dem Nichts heraus, bzw. im sozialen Nichts handelt er nicht. Die Kultur muss das Denken und das Fühlen, das Erinnern und das Erwarten vermitteln, sonst findet ,der Mensch' sich im Nichts aller Innerlichkeit wieder. Die Kultur muss das Entstehen von Unendlichkeiten verhindern, Endlichkeit erzeugen."

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Sätze wie diese, aus denen im Grunde das gesamte Buch besteht, hängen so gewaltig schillernd in der intellektuellen Mittelerde, irgendwo zwischen Banalität, Anmaßung und blankem Unfug. Bestenfalls sind sie so verknappt, dass man über Voraussetzungen und Hintergrundannahmen der Befunde gerne Genaueres wüsste. Und so gleicht dieses als Philosophie getarnte Buch eher einer Sammlung von Reden eines Gurus an seine Jünger.

Der Nebelstil - das ist irgendwann nicht mehr zu übersehen - ist dabei die direkte Folge von Hillenkamps methodischer Positionierung zwischen allen Stühlen, deren Rechtfertigung er am Schluss sogar noch ein ganzes Kapitel widmet. Indem er sich offen gegen jede Quantifizierung oder intersubjektiven Prüfung ausspricht und versucht, eine ganze Gesellschaftsdiagnose rein aus der eigenen Erfahrung abzuleiten, geht er eben kein überfälliges intellektuelles Wagnis sein, wie er den Leser beredt glauben machen will. Er macht es sich vielmehr zu leicht, weil er sich nicht der Mühe unterziehen muss, Belege beizubringen. Der Pakt mit dem Leser lautet: Komm schon, Dir macht dein mangelnder Selbstwert doch auch schrecklich zu schaffen!

Was das Buch als Symptom und Dokument zeitdiagnostisch trotzdem interessant macht, ist etwas, das man vielleicht selbstbewusste Weinerlichkeit nennen kann: "Wenn ich nachschaue, ob mir jemand eine Mail geschrieben hat, oder mich mit meinem Selbstrepräsentationen in ,sozialen Medien' befasse, sind die Nachrichten, Kommentare, Bilder, Texte, der gesamte sogenannte Inhalt, nichts als mein ,Wert' bzw. ,meine Wertlosigkeit'." Am Ende fühlt man sich wie ein Zeuge bei der skrupulösen, nicht selten leicht angeheideggerten ("das Nachglühen des Gewesenen") Anamnese eines depressiven Narzissten, dem jede Erfahrung die eigene Nichtigkeit bestätigt.

Und so gerinnt die "Negative Moderne" am Ende immerhin zu so etwas wie einem philosophischen Manifest für Millennials. Jener Generation der derzeit 20- bis 35-Jährigen, über deren eigenwilligen Begriff von Leistung zuletzt viel geschrieben und von nicht wenigen alten Firmenchefs ausdauernd geklagt wird. Das Gefühl, dass diese Generation eint, ist ja, dass sie einerseits weiß, dass sie gebraucht wird, ihr andererseits aber auch vollkommen klar ist, dass das große Fressen ohne sie stattgefunden hat, weshalb sie am liebsten so viel Zeit wie möglich am Landwehrkanal verbringen dürfen will.

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