Philharmonisches Tagebuch:Die andere Kernkraft

"Shining" ohne Blutbad und Jack, aber mit Valery

Von Egbert Tholl, Sendai

Es ist schon ein seltsames Gefühl, wenn der Zug auf dem Weg nach Sendai in Fukushima hält. Nichts merkt man. Natürlich, das Kernkraftwerk, oder was davon noch übrig ist, ist vom Ort selbst noch ein gutes Stück entfernt. Aber irgendwie dachte man sich, es müsste der Gegend der Horror von 2011 noch anzumerken sein. Doch die Stadt scheint vom Zug aus belebt und geschäftig wie eh und je. Hätte man nicht gerade beim "Spielart"-Festival die Video-Installation über die Kühe gesehen, die innerhalb der Sperrzone um die Atomruine als tierischer Sondermüll auf der Wiese stehen, vielleicht würde man gar nicht mehr daran denken. Wobei: Die Horngruppe der Münchner Philharmoniker nimmt am Montag an einem Benefiz-Konzert für die Opfer von Fukushima teil. Lederhosen haben sie für diesen Anlass auch dabei.

Nach vier Stunden Zugfahrt braucht der Bus in Sendai noch eine gute Stunde vom Bahnhof ins Hotel. Was zwar auch am Stau liegt, vor allem aber daran, dass dieses Hotel in einer Gegend gelegen ist, die einfach nur Gegend ist, Gegend und sonst nichts. Immerhin liegt gegenüber eine riesige Shopping-Mall, sonst wäre hier überhaupt niemand. Die Einsamkeit der philharmonischen Reisetruppe führt zu einem intensiven Abend in der Hotelbar. Die Bar schaut aus, als käme gleich ein silberner Schlitten um die Ecke, gezogen von Rentieren mit gläsernen Glöckchen am Geschirr; im Garten vorm Hotel leuchten die Lichterschlangen in den Bäumen, das Gebäude selbst wirkt wie ein Skihotel in Kanada, in dem es nur Torten zu essen gibt, und man denkt an eine verträumte Variante des Films "Shining", allerdings ohne Jack Nicholson - Valery Gergiev kommt am nächsten Tag aus Tokio zur Probe, pünktlich um 12.30 Uhr.

Dann drängen erst einmal viele Kinderlein zur Probe in den großen Saal eines "Izumity 21" genannten Kulturzentrums. Im Saal nebenan tanzen sehr alte, wunderschöne Paare zu süßer japanischer Musik Tango, das Konzertding selbst ist eine bemerkenswert ruppig hingeknallte Mehrzweckbühne mit einer Konzertmuschel und klingt doch wieder erstaunlich gut, trocken, hart. In Japan stellen sie einen Bretterkasten auf eine Theaterbühne, und es kommt ein besserer Saal heraus als vieles, was es in Deutschland zum Drinspielen gibt. Ein Rätsel. Aber man muss aufpassen. Gergiev läuft bis in die letzte Reihe, um die Akustik zu erkunden und vielleicht ein wenig Show für die Kinder zu bieten.

Zurück aus dem Zuschauerraum macht Gergiev vor, wie er sich manche Stellen vorstellt - es gibt wieder das Beethoven-und-"Pathetique"-Programm, aber Gergiev wird nicht müde, daran zu proben. Er erzählt von der "Schönheit des Non-Legato", macht Varianten des nichtgebundenen Spiels vor, mit viel "tttt" oder "tsss tsss", immer schön rhythmisiert und mit Dringlichkeit versehen: "Tschaikowski is a dangerous man." Die Musiker verstehen die lebendige Mischung aus Englisch und Gergievs Summbrummen, sie fordert Konzentration ein und ist offenbar so faszinierend, dass manche bei der Probe zuhören, obwohl sie gar nicht spielen müssen. Tatsächlich ist danach das Konzert ungemein schön, man hört manche Orchesterstellen wie zum ersten Mal, vor allem die Holzbläser und die Celli treten plastisch hervor, auch in der 25. Reihe wirkt das Geschehen auf dem Podium sehr nah. Nobuyuki Tsujii liefert seine vielleicht poetischste Leistung der Tournee ab, die "Pathetique" gelingt transparent bei aller Dichte. Und eigentlich sollte man noch von einer Begegnung mit Gergiev im winzigen Dirigentenzimmer zwischen Probe und Konzert berichten, aber das kommt morgen.

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