phil.cologne:Jeder Mensch ist ein Regenbogen

Auf der fünften "phil.cologne" streiten Julian Nida-Rümelin und Andreas Cassee beherzt über offene Grenzen in Europa. Danach fragen Schüler nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit der unbedingten Liebe.

Von Meredith Haaf

Die Podiumsdiskussion gilt als Schwelherd der kollektiven Erwartungsenttäuschung. Da kann das Thema noch so aufregend klingen, die Teilnehmerliste noch so illuster: Zu oft kommen am Ende anderthalb verlaberte Stunden heraus mit bis zu vier Menschen, deren Meinungen zu ähnlich oder zu disparat sind, um sich von Moderatoren in ein Gespräch bringen zu lassen, das irgendeine Erkenntnis beförderte.

Dass es auch anders geht, zeigten am Mittwochabend Julian Nida-Rümelin und Andreas Cassee. Sie hatten unter den straffen Moderationszügeln des Publizisten und Philosophie Magazin-Chefredakteurs Wolfram Eilenberger in Köln die nicht gerade kleine Frage zu erörtern, ob offene Grenzen eine gute Idee sein können. Es war der zweite Abend des Kölner Philosophiefestivals phil.cologne, das seit fünf Jahren stattfindet, ein Ableger der Lit.Cologne, bei der die Literatur im Vordergrund steht. Die phil.cologne war immer ein Publikumserfolg, im letzten Jahr hatte sie knapp 11 000 Besucher. Sie kommt laut Festivalleiter Rainer Osnowski im Gegensatz zu den meisten Festivals ohne private Sponsoren und staatliche Zuschüsse aus.

Mittlerweile ist die phil.cologne aus der überdrehten Jugendphase ("Platon-Slam mit Live-DJ") herausgewachsen. Die populärphilosophische Sparte ist zwar weiterhin bestens vertreten, Thea Dorn sprach über "German Angst", einen Begriff, den man nicht mehr denken möchte, am Wochenende wird der französische Starphilosoph Tristan Garcia erwartet, und auch Richard David Precht wird wieder seinen Dienst für das erkenntnishungrige Publikum leisten. Das Programm, das noch bis Sonntag läuft, serviert ein reichhaltiges Buffet mit allen Themen, die man von zeitgenössischer Nachdenkerei erwartet, von der Kunstmarktkritik über die Sexualität, zu einem Karl-Marx-Abend und mehreren Abenden zu den Fragen, die künstliche Intelligenz und Automatisierung aufwerfen.

Und doch ist hier eine Ernsthaftigkeit und Kritikfreude bei Veranstaltern und Publikum zu erleben, die sämtliche Eventcharakter-Nörgelei hinfällig macht. Ja, die Eintrittspreise sind noch immer ganz schön happig, aber im Vergleich zu den ersten Jahren gesunken.

Zurück zu den "Offenen Grenzen", um deren Berechtigung es im WDR-Funkhaus gehen sollte. Andreas Cassee, ein junger Schweizer mit einer kryptosozialistischen Grundhaltung und der sehr sympathischen Angewohnheit, in seine sonst druckreifen Ausführungen immer wieder ein schweizerisches "Hey" und "Oder" einzustreuen, veröffentlichte letztes Jahr "Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen". Cassee bezeichnet Staatsbürgerschaft als eine Art feudales Privileg, weil es per Vererbung oder Verleihung territoriale und kulturelle Ansprüche erwirkt oder verunmöglicht.

Die Staatsbürgerschaft bestimmter Länder sei heute mit einem Todesrisiko verbunden, die Staatsbürgerschaft eines Landes wie Deutschland hingegen bedeute einen Chancenvorsprung. Für Cassee ist die Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit auf dem Planeten eine moralische Ungerechtigkeit, die nicht zu rechtfertigen ist.

Julian Nida-Rümelin hat kürzlich sein Buch "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration" veröffentlicht und hält unbegrenzte Migration für ethisch nicht vertretbar. Er bemüht dafür keine moralphilosophischen Argumente, sondern die Praxis. Der Demos, also die Bürgerschaft, erklärt Nida-Rümelin, habe das Recht darüber zu entscheiden, wie viele neue Menschen er aufnehmen wolle. Alles andere gefährde die Funktionalität von Staaten.

Eine unkontrollierte Einwanderung würde uns eine "zweite Phase des Faschismus in Europa" bringen. Aus Nida-Rümelins Perspektive verstärkt Migration das katastrophale Ausmaß der globalen Wohlstandsungerechtigkeit: 1, 2 Milliarden Menschen auf der Welt lebten von weniger als 1, 5 US- Dollar am Tag. In den armen Ländern fände ein "Brain Drain" der Fähigsten statt, der die Lage für die Schwächsten dort noch verschlimmere. Die Lösung: Den Menschen helfen, wo sie sind. Und keine "illusorischen Versprechen" auf ein besseres Leben in Europa machen.

Nach der Veranstaltung geht der Diskurs auf der Damentoilette zwischen den Kabinen weiter

Freundlich, aber bestimmt, widerspricht Andreas Cassee: Für einen "Brain Drain" gebe es keine empirischen Belege. Stattdessen bleibe das "normative Problem, dass die Privilegierten unter den Armen ihre Perspektiven für die Ärmsten opfern sollen", und wir Super-Privilegierten können uns gut dabei fühlen, weil das sei "ja besser so für alle". Julian Nida-Rümelin, das muss man auch mal sagen, ist für jedes Podium ein Gewinn. Er nimmt die Sache und sich selbst so dermaßen ernst, dass es manchmal an Selbstherrlichkeit grenzt, wedelt auch gerne mit dem Zeigefinger ins Publikum und lässt sich offensichtlich ungern vorführen, was zur Folge hat, dass er für jeden Einwand ein knallhartes Sachargument zur Hand hat. Schmallippig bemerkt er, hier herrsche eine mangelnde Differenzierung. Die sei auch der Grund, "warum ich bei dem Format Streitgespräch immer skeptisch werde". Doch erlebt man bei kontroversen Diskussionen selten eine derart gelöste Stimmung im Auditorium wie an diesem Abend in Köln, ganz so, als sei das Publikum dankbar zu erleben, wie gut man sich streiten kann.

Am nächsten Morgen sitzt eine Gruppe von Menschen in der unentspanntesten Phase des Lebens, der zehnten Schulklasse, im Comedia-Theater: Zur phil.cologne gehört auch ein umfangreiches Kinder- und Jugendprogramm, das von Schulklassen gebucht wird. Yves Bossart schreibt Philosophie-Einführungen. Nun tigert er mit einem Mikrofon auf der Bühne herum, erörtert werden soll die Frage: Was erwarte ich von der Liebe?

Bossart versucht ein Gedankenexperiment: Würdet ihr jemandem, der euch nicht liebt, eine Pille geben, um das zu ändern? "Jeder, der den Film Matrix gesehen hat, weiß, dass das Manipulation wäre", sagt ein aufgeweckter junger Mann, der die Diskussion zunächst alleine bestreitet. Doch als die Frage aufgeworfen wird, ob man jemanden noch lieben könne, wenn der sich vom Sozialisten in einen Rechtsradikalen verwandelt, erwachen die Jugendlichen zum Leben: Man müsse, sagt eine Verfechterin der christlichen Nächstenliebe. Sie argumentiert mit Kant. Man könne, sagt eine andere junge Frau: "Wenn ich mich mit einem Regenbogen vergleiche, dann hat der Mensch viele Eigenschaften nebeneinander. Aber wenn mir das Lila in dem Regenbogen irgendwann hässlich vorkommt, dann kann es schon sein, dass ich den ganzen Regenbogen nicht mehr schön finde." Nach der Veranstaltung geht die kritische Auseinandersetzung noch auf der Damentoilette zwischen den Kabinen weiter: "Ich dachte, wir kommen noch zu einer Definition, ey. Aber nein!" Nach aktueller Lage besteht um die Kritikfähigkeit zukünftiger Generationen offenbar kein Anlass zur Sorge.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: