Péter Esterházy:Es gibt kein Ende

Péter Esterházy: "Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss." Der ungarische Erzähler Péter Esterházy.

"Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss." Der ungarische Erzähler Péter Esterházy.

(Foto: Ferdinando Scianna)

Der große ungarische Erzähler ist am Donnerstag in Budapest gestorben. Er hat die Geschichte seiner Familie und seines Landes zusammengeführt mit den Wanderungen der europäischen Literatur.

Von Lothar Müller

Es war ihm wichtig, für diese Buchpremiere noch einmal nach Berlin zu kommen. Anfang April saß Péter Esterházy im großen Saal der Akademie der Künste am Pariser Platz und las aus der deutschen Übersetzung seines letzten Buches, "Die Markus Version. Einfache Geschichte Komma hundert Seiten". Das Buch ist um ein Ich herum gebaut - es beginnt mit dessen Geburt -, um dessen Familie, um das Aufwachsen und Hereinwachsen in Erzählungen und in das Schreiben. Dieses Ich, das von sich sagt, es habe eher beten als sprechen können, wächst in den Text des Markus-Evangeliums hinein, und am Ende gleitet in einer unerhörten Bewegung die erste Person Singular in die Passionsgeschichte hinein: "Aber ich schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwey Stück, von obenan bis untenaus."

Im ungarischen Original ist "Die Markus Version" 2014 erschienen, mag sein, dass da die Krebserkrankung, die Péter Esterházy im November 2015 öffentlich machte, noch Zukunft war. Im April 2016 war sie ihm anzusehen, aber sie hatte die Heiterkeit, die ihn umgab, nicht zerstört. Er hatte sie mitgebracht nach Berlin, sie war seiner Stimme anzuhören, als er über das Ich, das er gerade vorgelesen hatte, sprach. Diese Heiterkeit der Person Péter Esterházy hatte ihre Entsprechung im Werk, in dem die Sprache über die Stränge schlägt, Haken schlägt, tänzelt, Finten antäuscht und sich nicht scheut, gelegentlich auch den Herrgott, "der sich ausschließlich mit sich selbst unterhalten kann", unter die komischen Figuren einzureihen.

"Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Diktaturen, und die Sprache der Diktatur ist die Stille, die tödliche endlose Stille."

Wenige Wochen nach seinem letzten Auftritt in Berlin hat Péter Esterházy die Grabrede auf seinen Freund Imre Kertész gehalten. Die Worte Auschwitz und Holocaust waren in der Rede anwesend, obwohl Esterházy sie aussparte, als er davon sprach, Kertész' Kunst entstehe aus dem Schmerz und aus der Radikalität seiner Beziehung zum Schmerz. Die Sprache, die Kertész im "Roman eines Schicksallosen", gefunden hatte, war seine Antwort auf die Deportation nach Auschwitz und sein Überleben, die Befreiung in Birkenau. Die unbändige, grenzenlose, schamlose Heiterkeit, die Péter Esterházy durch sein Schreiben in die Welt setzte, war seine Antwort auf das, was er einmal "die Brutalität der Wirklichkeit" genannt hat. Er kannte sie, weil er ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts war, aufgewachsen im realen Sozialismus, nicht selten machte er sich einen Spaß daraus, das Gemütliche, den Anflug von Idylle aus dem Assoziationsbereich des ungarischen "Gulaschkommunismus" zu tilgen. Als Péter Esterházy im April 1950 in Budapest geboren wurde, als Kind eines Zweiges der alten aristokratischen Familie, von der in seinem Hauptwerk "Harmonia Caelestis" (2000) die Leute sagen, sie seien die Rothschilds Osteuropas, war Mátyás Rákosi an der Macht. Als "damaliger König Ungarns, Schüler Stalins, der beste in diesem Land", geistert er ungeschickt durch Esterházys Roman "Kleine ungarische Pornographie". Der Roman hat seine lasziven Seiten, das Obszöne darin ist aber, dass Staat und Machtapparat die Sprache als ihre Mätresse benutzen. "Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Diktaturen", sagte Esterházy 2006 in seiner Tübinger Poetik-Vorlesung, "und die Sprache der Diktatur ist die Stille, die tödliche, endlose Stille. Was ich gekannt habe, das war bereits eine verbesserte Version oder schwache Version, ein Softporno, seine Sprache ist das Schweigen, das Schweigen gerade von der Diktatur, denn auch die schwache Diktatur ist eine Diktatur, sie frisst das Leben der Untertanen auf."

Über die gescheiterte Revolution von 1956 durfte in Ungarn nicht gesprochen werden, als Péter Esterházy seit den mittleren Siebzigern zum Schriftsteller wurde. Er hatte Mathematik studiert und mit elektronischer Datenverarbeitung sein Geld verdient, ehe er seine große Affäre mit der ungarischen Sprache begann. Früh tauchte in seinen Romanen ein Datum immer wieder auf: der 16. Juni. Es ist der Tag, an dem James Joyce 1904 seinen Leopold Bloom durch Dublin wandern lässt. Und es ist der Tag, an dem in Budapest 1958 mit der Hinrichtung von Imre Nagy der Schlusspunkt unter die "Konterrevolution" von 1956 gesetzt wurde. Mit diesen Daten im Kopf hat Péter Esterházy die Sprache seiner Literatur gesucht und gefunden, die Sprache, die sich ihre eigene Ordnung schafft, sich den Mund nicht verbieten lässt und die Konventionen des Erzählens durcheinanderwirbelt. Schon in seinem frühen Roman "Francsikó und Pinta" (1976) schwanken die Kronleuchter, werden Fotografien retuschiert, wird die Form des Familienromans aufs Karussell gesetzt, gilt das Grundgesetz der Esterházy-Welt: "Ich komme nämlich immer von Wort zu Wort und nicht vom Gedanken zum Gedanken. Und auf diesen Gedanken werde ich im Lauf der nächsten Tage öfters zurückkommen." Dieses schwankende Schreiben verspottete die Direktiven des sozialistischen Realismus, entführte ihm sein Pathos und seine Idole.

Die Verve, mit der Esterházy auszog, im sozialistischen Staat eine sich ausdehnende Enklave des literarischen Eigensinns zu schaffen, zog ihre Kraft aus Joyce, aus der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, die an die Stelle festgezurrter Bedeutungen die Fülle möglicher, aus dem Sprachgebrauch hervorgehender Bedeutungen setzte, und vor allem aus den Traditionen der mittel- und osteuropäischen modernen Literatur. Er setzte die Bundesgenossen aus nah und fern, Ost und West wie ein Geschwader ein, das über die Enklave hinwegflog, sich immer wieder in ihr niederließ, in seinen eigenen Texten Gastauftritte hatte, während sie den Stoff der Familiengeschichte und der Geschichte Ungarns in sich aufnahmen. Peter Handkes Buch "Wunschloses Unglück" über den Selbstmord seiner Mutter ging in die schwarzumrandeten Seiten von Esterházys Buch "Die Hilfsverben des Herzens" (1985) ein, Thomas Bernhard steuerte eine Hasstirade bei, Dezső Kosztolányi, Bohumil Hrabal und immer wieder Danilo Kiš wanderten mit ihrem Witz und ihren Schreckensgeschichten in die Bücher ein.

Der Anfang des Romans "Harmonia Caelestis" lautet: "Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt."

Schon vor 1989/90 war die zeitgenössische ungarische Literatur in Westeuropa angekommen, nicht zuletzt durch Programme des DAAD. Péter Esterházy kam 1980 nach West-Berlin, das auch in die Romane von Péter Nadás einging, Essays von György Konrád trugen zur Kritik an der durch Jalta festgelegten bipolaren Welt und zur Wiederentdeckung "Mitteleuropas" bei. Esterházy hatte in seiner Erzählung "Wer haftet für die Sicherheit der Lady" (1982) den Helden, einen Lektoratsgutachter, in eine Schule der (nicht zuletzt erotischen) Verwirrung geschickt und en passant das Klischee von Budapest als östlichem Paris durch den Kakao gezogen. Er war nicht der Mann der politischen Essays und Manifeste, sondern der Unterminierung des 16. Juni 1958 durch den 16. Juni 1904. Als dann die Nachkriegsordnung Europas samt Sowjetreich und Warschauer Pakt zerfiel, ging Esterházy in den 1990er- Jahren an sein großes Werk, die "Harmonia Caelestis" (2001), ein barockes Ungetüm mit barockem Titel, ein Mosaik aus "numerierten Sätzen" über die eigene Familie, die Esterházys. Der Familienroman und die Genealogie hatten hier ausgespielt, und immer war ungewiss, wie groß die Verwandtschaft der erzählten Figuren mit den empirischen Mitgliedern der Familie des Autors war. Nun lautete der Anfangssatz: "Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt."

Das erzählende Ich gleitet in diesem europäischen Roman durch diese Namen, wie ein Luftgeist durchstößt es die Grenzen zwischen den Generationen, ruft Vater, Großvater, Urgroßvater, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter in sich hinein, und wenn es einen gibt, der immer wiederkehrt, dann ist es der ewige Sohn. Er sieht hinab bis in die Zeit der Türkenkriege, er sieht seine Vorfahren im Zeitalter der Konfessionskriege, er sieht sie an antihabsburgischen Rebellionen teilnehmen und in Diensten Habsburgs europäische Politik machen. In hinreißender Mimikry mit den Intrigen in der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts verfällt ein Esterházy aus dem Umkreis Maria Theresias dem "Tango der Schwächung". Später huschen Churchill und der deutsche Kaiser Wilhelm II. durchs Bild. Im Nahblick auf das 20. Jahrhundert zerschellt der große Name "Esterházy" in Revolution, Krieg und Aussiedlung. Wie Natalia Ginzburg in ihrem "Familienlexikon" (1963), aus dem sich Esterházy lange Passagen zu eigen machte, entwirft er das Porträt der Familie als Sprachgemeinschaft. Kein Erkennungswort, keine privatsprachliche Bedeutungsnuance bleibt unbeachtet. Aber hier wie dort bleibt das Familienidiom nicht Privatsprache, es wird zum vielstimmigen Medium, das die europäische Geschichte zur Darstellung bringt.

Ja, hier ist ein Ich, das Esterházy heißt, sich selbst auf der Spur, horcht dem Klang seines Namens nach, dem Echo der Mythologie des Reichtums an Geld und Ländereien, der beflaggten Schlösser und der märchenhaften Gelage. Aber diese "Bekenntnisse einer Familie Esterházy" kennen das verklärende Licht der Nostalgie nicht. Die Wahnsinnigen hier sind von der Realgeschichte, zumal der ungarischen, gezeichnet: "Einmal rief mich ein Wahnsinniger an und fing an, mir zu erklären, das Kádár-System hätte sich in den Leib seiner Mutter eingenistet, aber ich solle ihn deswegen nicht für verrückt halten. ,Ach, iwo!' Es hörte sich ziemlich glaubhaft an. Ich hatte auch schon daran gedacht, daß eine Diktatur auch den Körper verändern müßte, es wachsen uns zwei Nasen oder Schwimmhäute zwischen den Fingern. Beziehungsweise war es gar nicht seine Mutter, sondern sein Vater. In die Gedärme seines Vaters. Deswegen war dieser auch Polizist geworden. Er kämpfte für das System, das ihn kaputtgemacht hatte."

Nachdem er das Manuskript der "Harmonia Caelestis" fertiggestellt hatte, erfuhr Péter Esterházy durch einen Besuch beim "Amt für Geschichte", dass sein eigener Vater für den Staat Spitzeldienste geleistet hat. Aus Abschriften aus diesem Agentendossier und minutiösen Schilderungen der Innenwelt des Sohnes beim Lesen der Akte seines Vater entstand die "Verbesserte Ausgabe" (2002). Die Verbesserungen betrafen die "Harmonia Caelestis", auf deren Vaterfigur nun der Schatten der Akte fiel. In kristallklarer, bisweilen sarkastischer, bisweilen grimmig-komischer Diktion entstand hier eine Innenansicht der Wendezeit, aus den Sprachspielen war die Literatur gewichen. "Keine Kunst" (2008) hieß das Buch, in dem noch einmal die Mutter auftaucht. Sie wird hier mit einer anderen großen Liebe des Autors, dem Fußball, verkuppelt.

Und dann, während in Europa in Ost und West der Nationalismus an Boden gewann, wandte sich Esterházy, der 2004 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hatte, noch einmal der Geschichte zu. Seine "Mantel-und-Degen-Version" (2013) der ungarischen Geschichte fuhr mit Schalk und Fantasie ihrer neuerlichen Präparierung für die Selbstverklärung Ungarns in die Parade. Dann kam die "Markus-Version", mit dem Schlusssatz: "Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss." Dann kam die Krankheit, dann der Tod. Europa hat einen großen Schriftsteller verloren. Wir trauern.

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