Pervertiertes Gedenken an den Gulag:Bühne frei für Ex-Kerkermeister

Gulag Perm-36 (Russia, Kuchino near Chusovoi). Corridor inside the camp internal prison.

Blick in einen Korridor des Gefängnisses im Perm-36-Gulag-Museum

(Foto: Wulfstan / CC-BY-SA-3.0)

Kreml-Propagandisten knöpfen sich "Perm 36" vor, Russlands einzige Gulag-Gedenkstätte. Angeblich verherrlichte das Museum bislang ukrainische Faschisten - nun agieren ehemalige Aufseher des Straflagers dort als Führer.

Von Bert Hoppe

Das russische Fernsehpublikum, dem seit einem halben Jahr verstärkt Propaganda serviert wird, ist nun daran erinnert worden, dass vom Westen bezahlte Agenten nicht bloß in der Ukraine ihr Unwesen treiben, sondern auch im eigenen Land, etwa in der Gulag-Gedenkstätte Perm-36.

Wer bislang annahm, bei dieser 1995 von ehemaligen Häftlingen und Mitarbeitern der Menschenrechtsorganisation Memorial gegründeten Institution handele es sich um eine in Russland einzigartige Einrichtung, die an einem authentischen Ort über die Geschichte der sowjetischen Lagerwelt aufkläre, den belehrte der Sender NTV Anfang Juni eines Besseren: Ein halbstündiger Fernsehbeitrag über Amerikas "Fünfte Kolonne" entlarvte das Museum als Teil der US-Strategie, jungen Russen ihren Nationalstolz auszutreiben.

"Wie verändert man die Erinnerung einer ganzen Generation?", hieß es in der Anmoderation. "Wo erfahren Schulkinder von den Erfolgen der Bandera-Leute? Und auf wessen Gehaltslisten stehen die, die ihrer Heimat ablehnend gegenüberstehen?"

Um diese Fragen zu beantworten, hat sich das Fernsehteam von ehemaligen Aufsehern des Straflagers über das Gelände der Gedenkstätte führen lassen. Diese erzählten, wie der Alltag hinter Stacheldraht eigentlich ausgesehen habe (wobei nicht deutlich wurde, worin sich Perm-36 von einem sowjetischen Sanatorium unterschieden haben mag) und welche Häftlinge dort untergebracht waren: Es seien vor allem Kriegsverbrecher und ukrainische Faschisten gewesen, die nun in der teilweise mit westlichem Geld erstellten Ausstellung als Freiheitskämpfer verherrlicht würden, während ihre Nachfolger heute im Donbass einen Genozid verübten.

Tatsächlich waren in Perm-36 nach der Gründung des Lagers im Jahr 1946 auch Anhänger des Nationalisten und zeitweiligen NS-Kollaborateurs Stepan Bandera inhaftiert, allerdings stellten sie unter den Häftlingen eine Minderheit.

Systematisch ausgetrocknet

Im Zentrum der Ausstellung stehen die Dissidenten der Siebziger- und Achtzigerjahre, etwa der 1938 geborene ukrainische Dichter Wassyl Stus. 1972 bis 1979 wegen seiner Kritik am politischen Rollback unter Breschnjew das erste Mal inhaftiert, wurde der Rilke-Verehrer nur ein Jahr nach seiner Entlassung als "besonders gefährlicher Wiederholungstäter" erneut zu zehn Jahren Zwangslager verurteilt, weil er in Kiew Kontakt mit der dortigen Helsinki-Gruppe aufgenommen hatte. Stus starb 1985 im Lager Perm-36 an den Folgen eines Hungerstreiks, ein Begräbnis in der Heimat lehnten die Behörden ab: Die Haftzeit sei noch nicht abgelaufen.

1987 wurde das Lager im Zuge der Perestroika geschlossen. Paradoxerweise war die gespenstische Privatführung der einstigen Kerkermeister in ihrer früheren Wirkungsstätte erst möglich geworden, weil der private Trägerverein Ende 2013 zugestimmt hatte, das Museum in staatliche Trägerschaft zu überführen.

Auf diese Weise wollte er der Registrierung als "ausländischer Agent" entgehen. Die Gebietsverwaltung aber nutzte die Gelegenheit, um die Gedenkstätte systematisch auszutrocknen. Kaum lag die Finanzierung vollständig in ihren Händen, stoppten die Beamten sämtliche Zahlungen an das Museum.

Fernsehen befragt Extremisten plötzlich als historische Experten

Zunächst mussten acht von zehn Angestellten entlassen und die Außenstelle im ehemaligen NKVD-Gebäude in Perm geschlossen werden, im April stellten die Stadtwerke wegen unbezahlter Rechnungen Gas, Strom und Wasser ab. Parallel zu diesen "administrativen Maßnahmen" der Behörden begannen die örtlichen Kommunisten und die Permer Abteilung der neostalinistischen Bewegung "Sutj wremeni" (Das Wesen der Zeit) gegen die Gedenkstätte zu agitieren.

Die Kommunisten demonstrierten unter Losungen wie "Keine Nato-Basis in Perm-36!", während die Neostalinisten auf traditionelles Vokabular zurückgriffen, der Gedenkstätte schlicht "antisowjetisches Verhalten" vorwarfen und jede Veranstaltung dort zu sprengen versuchten.

Als die Arbeit des Museums lahmgelegt war, wurde die Direktorin abberufen. Ihren Posten nahm die bisherige stellvertretende Kulturministerin des Gebiets Perm ein, die anschließend auch dem Team von NTV gestattete, sich von den pensionierten Lageraufsehern durch die verwaisten Räume führen zu lassen.

Dass der Konflikt zwischen dem Staat und den Menschenrechtlern um das Gulag-Museum ausgerechnet in diesem Frühjahr derart eskaliert ist und Vertreter von Splittergruppen wie "Sutj wremeni" plötzlich als historische Experten im Fernsehen befragt werden, ist natürlich kein Zufall. "Wenn man Krieg führt, darf man bei sich im Hinterland keine Fünfte Kolonne dulden", sagte Pawel Gurjanow, Vorsitzender von "Sutj wremeni" in Perm, als er von der kremlkritischen Moskauer Tageszeitung Nowaja Gazeta interviewt wurde.

"Neue Akzentsetzungen"

Das bislang eher abstrakt aufgefasste "Agentengesetz" wird im Fall von Perm-36 erstmals mit konkreten Vorwürfen verbunden, und die Ukraine-Krise bietet die passenden Stichworte dazu. "Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine", so fasste ein russischer Blogger die Vorwürfe an der Arbeit von Perm-36 zusammen, "haben gezeigt, wohin die Rehabilitation der Bandera-Leute führt und warum diese Leute in der UdSSR im Lager saßen, anstatt über den Maidan zu spazieren."

Zwar hat der Gouverneur von Perm in der vergangenen Woche versichert, die Gulag-Gedenkstätte werde bald wieder eröffnen, sein Kulturminister aber kündigte bereits einige "neue Akzentsetzungen" an, was der Veteranenverband der Lageraufseher zum Anlass nahm, seine Hilfe bei der Überarbeitung der Dauerausstellung anzubieten.

Inzwischen haben Arbeiter begonnen, Teile des Zaunes von Perm-36 und die gewaltigen Stahltore des Lagers zu zersägen.

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