Persönlichkeitsstörung:Ein großes schwarzes Loch

Im Zimmer von David S. fand die Polizei das Buch "Amok im Kopf". Was trieb den Täter? Ein Interview mit dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann, von dem das Vorwort zum Buch stammt.

Interview von Alex Rühle

Die Polizei hat im Zimmer von David S., dem Amokläufer von München, ein Exemplar des Buches "Amok im Kopf: Warum Schüler töten" gefunden. Das Buch des amerikanischen Psychologen Peter Langman erschien 2009 nach dem Amoklauf von Winnenden. Das Vorwort schrieb der deutsche Soziologe und Jugendforscher Klaus Hurrelmann.

SZ: Herr Hurrelmann, der Münchner Amokläufer hat zur Vorbereitung seiner Tat offenbar "Amok im Kopf" gelesen. Worum geht es darin?

Klaus Hurrelmann: Peter Langman hat sich über fünf Jahre lang die Krankenakten, psychotherapeutischen Berichte und Verhörprotokolle zu über hundert "School Shootings" angesehen, also Amokläufen an Schulen. Die zehn Fälle, zu denen er das meiste Material fand, hat er dann genau analysiert. Sein Ergebnis: Bei allen zehn Tätern - und das kann man darüber hinaus erweitern - wurde eine schwere Persönlichkeitsstörung festgestellt. Alle waren in Behandlung oder hatten vor ihren Attentaten mal therapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen. Sie waren psychisch krank. Das war der gemeinsame Nenner für die sonst oftmals ganz unterschiedlich gelagerten Fälle.

Langman unterscheidet drei Tätergruppen: die Psychopathen, die Psychotiker und die Traumatisierten. Können Sie diese drei Gruppen etwas genauer charakterisieren?

Traumatisierung bedeutet, dass der Täter ein schweres Schockerlebnis hatte, etwa indem er Opfer von Gewalt wurde oder massive Eingriffe in seine Autonomie erlebt hat, existenziellen Ängsten ausgesetzt war. Die Schizovariante, das ist die gespaltene Persönlichkeit. Und die psychopathologische, die Langman in den Vordergrund stellt, weil er sie für die häufigste hält, bedeutet, dass ein Mensch den Kontakt zu sich selbst, zu seinem Körper, seiner Psyche und auch zu seiner Umwelt völlig verliert, in einem Wahnraum lebt und sich für jemanden ganz anderen hält, als er ist.

Sie bezeichnen Langmans Buch als bahnbrechend. Warum?

Es war uns vorher einfach nicht klar, dass eine solch starke Persönlichkeitsstörung - Langman spricht sogar von Persönlichkeitszerstörung - allen solchen Tätern gemein ist und eine derart gravierende Rolle spielt. Ich als Soziologe hatte bis dahin geglaubt, dass Umweltbelastungen - gestörte Familienverhältnisse, schulische Belastungen, Konflikte mit Freunden und so weiter - das Entscheidende sind. Langman zeigt: Das sind wichtige Faktoren, sie führen aber nur bei einer gestörten Persönlichkeit dazu, dass die jungen Männer in eine andere Welt abdriften. Eine gesunde Person kann oft die schwersten Konflikte irgendwie abfedern. Und dann muss jeweils noch der dritte Faktor gegeben sein: Der Täter muss Zugang zu einer Waffe haben.

Das passt zu dem Amokforscher Christoph Paulus von der Uni Saarbrücken, der vier typische Faktoren für jeden Amoklauf benennt: Die Amokläufer sind von Waffen sehr fasziniert, haben Zugang zu Waffen, neigen stark zu aggressivem Verhalten und zeigen deutliche Anzeichen einer psychischen Störung.

Ja. Langmans Buch fasste damals die gesamte Forschung zusammen, zu 150 Fällen oder noch mehr. Diese Kategorien treffen auf alle zu.

Nun ist es ja verstörend, dass solch ein Buch, das eindeutig als Präventionsbuch geschrieben wurde, im Zimmer des Täters gefunden wird. Was meinen Sie: Warum hat er es gelesen?

Amoklauf Winnenden

Einschusslöcher am Autohaus in Winnenden, wo 2009 der Schul-Amoklauf des 17-jährigen Tim Kretschmer endete. Der Münchner Amokläufer vom vergangenen Freitag hat sich offenbar detailliert mit dieser und anderen Vorgängertaten beschäftigt.

(Foto: Boris Roessler/dpa)

Ja, darüber bin ich selbst sehr erschrocken. In dem Buch werden die zehn Fälle - aus aufklärerischer Hinsicht ist das ja auch sinnvoll - tatsächlich sehr detailliert beschrieben. Der Münchner Mörder hat möglicherweise in den Schulattentätern Leidensgenossen gesehen. Oder er hat sich bei ihnen angeschaut, wie man es am besten macht. Was wiederum eine These von Peter Langman bestätigen würde: Alle Attentäter haben sehr genaue Analysen bisheriger Übergriffe gemacht und alles ganz genau rekonstruiert, um zu sehen, was sie davon als Modell für ihr eigenes Handeln herausgreifen können. Aber es bleibt sehr unheimlich und schockierend, dass ein informatives Sachbuch, das zur Aufklärung von Lehrern, Therapeuten, Pädagogen, Eltern gedacht war, um zu vermeiden, dass solche Amokläufe geschehen, auf dem Tisch eines solchen Täters gefunden wird.

Besonders perfide an den Münchner Morden war ja offenbar, dass der Täter über einen gefälschten Facebook-Account Jugendliche an den Tatort lockte, mit dem Versprechen, sie zum Essen einzuladen.

Das gab es noch nie. Man sieht daran, dass solche Taten immer auf der aktuellen Schwelle von Technologie und Kommunikation laufen. Aber weil Sie den Tatort gerade erwähnen: Im Unterschied zu allen School Shootings hat dieser junge Mann ja nicht an seiner Schule zugeschlagen.

Aber er hat gezielt Jugendliche durch die Facebookfalle an den Tatort gelockt. Und er scheint gezielt auf Gleichaltrige geschossen zu haben: Acht der neun Ermordeten waren zwischen 14 und 20 Jahre alt.

Trotzdem ist es noch erklärungsbedürftig, warum das nicht an der Schule stattfand. Vielleicht weist es darauf hin, dass er nicht an seiner Schule gekränkt wurde.

Inwieweit sind denn solche Kränkungen, ist das Opfergefühl zentral bei Amokläufern?

Solch ein Amoklauf macht vorne und hinten nach unseren normalen Kategorien keinen Sinn. Der Täter ist natürlich daran interessiert, der Tat eine Sinnkomponente zu geben. Etwa: Ich bin ein Opfer der Gesellschaft. Oder: Ich muss für Gerechtigkeit sorgen. Deshalb ist es ja auch für viele Gewaltattentäter so attraktiv, ihre Tat religiös oder politisch zu verbrämen. Obwohl das gar nicht der eigentliche Antrieb ist. Insofern bin ich auch erleichtert, dass diese Tat - auch wenn sie für sich natürlich schon schlimm genug ist - eindeutig keinen Hintergrund im religiösen oder politischen Kulturspannungsverhältnis hat. Es liegt uns nahe, gerade in der aktuellen Nachrichtenlage, solche Taten mit unseren Kategorien zu verstehen oder einzuhegen, aber Peter Langman zeigt ja gerade, dass das nicht geht. Er schreibt, es bleibe bei jeder der noch so detailliert rekonstruierbaren Taten ein großes schwarzes Loch: die psychische Störung, der Wahn.

Trotzdem noch einmal zu der Frage nach dem Opfergefühl. Der Täter sagte in dem Video, das ein Augenzeuge drehte, er sei gemobbt worden und habe sich deshalb eine Waffe besorgen müssen. So, als sei das eine ganz logische Reaktion: Ich armer Hanswurst bin zu kurz gekommen, jetzt muss ich eben morden. Findet sich solches Opfergerede in vielen Fällen?

Ja, es gibt viele Täter, die gemobbt und erniedrigt wurden und dann racheartige Handlungen vollzogen haben. Aber Peter Langman zeigt in "Amok im Kopf", dass es eben nicht so einfach ist: Es gibt auch Täter, die waren ziemlich erfolgreich und beliebt in der Schule. Da hängt die Persönlichkeitsstörung also an irgendeinem anderen Faktor. Was sie eint, ich wiederhole mich: Alle Täter - auch David S. - waren oder sind zum Tatzeitpunkt in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung.

Klaus Hurrelmann

Klaus Hurrelmann ist Soziologe und Jugendforscher. Er war Professor in Bielefeld und lehrt seit 2009 an der Hertie School of Governance in Berlin.

(Foto: Tim Brakemeier/picture alliance/dpa)

Und alle sind sie junge Männer oder männliche Jugendliche. Warum?

Von den Schul-Amokläufen sind mehr als 90 Prozent der Täter männlich. Das hat mit typisch männlichen Bearbeitungsstrategien von Störungen und Belastungen zu tun. Sie tragen sie nicht nach innen, sondern explosiv nach außen. Die Gewalt wird dann als Befreiungsschlag gegen die Umwelt erlebt - und gegen sich selbst. Denn meist töten die Täter am Ende sich selbst.

Der Soziologe David Altheide zeigt in seinem Buch "Creating Fear", dass die Medien seit den Neunzigerjahren das Bild einer Welt außer Kontrolle zeichneten. Dass ihre einzige Botschaft die Angst sei. Altheide sagt, dass man in einer säkularisierten Gesellschaft keine Angst mehr vor Gott, sondern nur noch vor dem Verbrechen habe. Entspringen solche extremen Gewaltverbrechen also oft auch Selbstermächtigungs- und Größenwahnfantasien? Im Sinne von: Ich begehe das denkbar schlimmste Verbrechen und bin dann der Allergrößte?

Voll und ganz. Der Täter steigert sich in seiner dekonstruierten Persönlichkeit in Wahnvorstellungen hinein, er fühlt sich als allmächtiger Handelnder und erlangt durch seine grausamen Taten etwas, das er nie zuvor in seinem Leben so richtig erreicht hat: die totale Herrschaft über seine Umwelt. Er katapultiert sich aus der Ohnmacht heraus in die brutale Machtausübung.

Warum bringt sich so jemand, nachdem er das, worauf er so lange hingefiebert hat, durchgeführt hat, selbst um?

Alle diese Taten haben systematisch die Selbsttötung eingeplant. Die allermeisten bringen sich auch tatsächlich um.

Wobei es mehrere der von Peter Langman beschriebenen Täter nicht selbst schafften. Sie bettelten dann aber geradezu darum, dass die Polizei sie erschießen möge.

Genau. Die Selbsttötung gehört zur Tat dazu. Daher kommt der Name Amok auch: Es handelt sich um einen Menschen, der nicht nur seine Umwelt hasst, sondern auch sich selbst. Das fällt zusammen. Das macht sie ja auch so unverständlich.

Wie wichtig ist für solch einen Täter die maximale Opferzahl? Der Münchner Mörder hatte noch 300 Kugeln im Rucksack, als er sich umgebracht hat.

Was vor allem zählt, ist, diesen Schlag gemacht zu haben. Das Ganze in einem Szenario zu Ende zu bringen.

Noch eine Frage an Sie als Soziologen. Es war diesmal kein Terrorattentat, reiht sich aber in die Gewalttaten ein, die seit eineinhalb Jahren die europäische Gesellschaft erschüttern, die Attentate in Frankreich, Brüssel, Orlando, Nizza, zuletzt der Axtangriff in einem deutsche Regionalzug. Wie sollten wir als Gesellschaft darauf reagieren? Herfried Münkler sprach sich für "heroische Gelassenheit" oder zuletzt für "mürrische Indifferenz" aus.

Das ist der richtige Weg. Wenn es uns nicht gelingt, auf vereinzelte Amokläufe oder Attentate anders zu reagieren als auf eine die ganze Gesellschaft gefährdende Situation, müssen wir noch mal in uns gehen. Da kommen wir auch sehr schnell zu den Medien. Es ist beunruhigend, dass solch eine Tat sofort weltweit eine derart riesige Aufmerksamkeit erfährt, weil sie im Kontext einer Kette von Attentaten und damit existierender Verunsicherung stattfindet.

Was sollten wir als Medien denn anders machen Ihrer Meinung nach?

So sachlich wie möglich berichten, aber was soll ich schon groß sagen? Sie könnten ja auf die Wissenschaft verweisen: Zum ersten Mal wurde eine wissenschaftliche Amok-Analyse beim Täter gefunden. Der hat das wohl als Anleitung gelesen. Was heißt das für uns? Dürfen wir unsere Analysen fortan nur noch in geschlossenen wissenschaftlichen Zirkeln kreisen lassen, weil sie eventuell als Vorbild dienen könnten? Da bin auch ich ratlos und denke, dass Münkler recht hat. Wir müssen nun darauf gefasst sein, dass so etwas passieren kann, und müssen einfach weiterleben.

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